Die Corona-Krise hat alte Strukturen aufgebrochen und schulisch viel durcheinandergewirbelt. Das bietet auch die Chance, Schule nachhaltig zu verändern. In dieser Artikelreihe beschreibe ich, wie meine Schule diesen Transformationsprozess angeht. Heute: Ein wenig Fachunterricht.
Rückblick
Im ersten Artikel habe ich über die Gründe des Transformationsprozesses geschrieben und im nachfolgenden über die Struktur, die Tage mit einem gemeinsamen Anfang zu beginnen und die Arbeit dann in zeitlich stark ausgedehnte Lernbüros zu verlagern.
Gemeinsamer Fachunterricht findet natürlich trotzdem statt. Die Einführung ins Thema, gemeinsame Bearbeitung von Problemen oder Vertiefung in ein Thema. Aber nur sehr reduziert: Eine Stunde pro Woche.
Auch Sport ist ein Fach, dass geschlossen im Klassenverbund stattfindet und schlecht ausgelagert werden kann (an dieser Stelle eine Fußnote denken, auf die ich später noch zurückkommen werde).
Ein erster Gedanke wird lauten: „Oh je! Nur eine Stunde Mathe/Deutsch/Englisch? Seid ihr völlig wahnsinnig??? Hm. So wenig Fachunterricht? Das wird ja eine Umstellung.“
In der jeweiligen „Ausbildungs- und Prüfungsordnung“ (APO) der Länder findet sich eine sogenannte „Stundentafel“ (hier ein Beispiel). Darin findet sich tabellarisch aufgeschlüsselt, wie viel Unterricht ein Kind in einem bestimmten Fach erhält, z.B. 18 Wochenstunden Sport im Laufe seines Schullebens während der Sekundarstufe 1. Das erklärt auch, warum Sport manchmal 2- und manchmal 3-stündig unterrichtet wird.
Ich kann Kindern also nicht beliebig viel Mathematik oder Biologie zuschieben, sondern muss mich an Vorgaben halten. Rechne ich die Fachstunde mit der Zeit in den Lernbüros zusammen (einmal pro Woche Mathe/Englisch/…) und weiß dann, dass ich die ein oder andere Organisationsstunde im Mittelblock vor einer Klassenarbeit auch noch abzweigen kann, komme ich auf jede Menge Fachunterricht – aber (und das ist der Knackpunkt): Als Lehrkraft kann ich den Fokus der Wissensvermittlung nicht auf die wenigen Fachstunden legen, sondern zentral muss die Schaffung von differenzierten Lernräumen (den Lernbüros) für die Kinder sein.
Kann das funktionieren?
Richard Wells hat dieses vebreitete Bild von Lego-Star-Wars-Figuren erstellt, die wie eine Schulklasse aufgereiht sind, während Darth Vader vorne als Lehrer etwas erklärt.
Ein Viertel der Klasse ist aus Gründen unaufmerksam, ein weiteres Viertel schläft mit offenen Augen, eine Handvoll Kinder langweilt sich, da sie schon alles verstanden haben und nur der letzte Rest ist aufmerksam und fühlt sich gut abgeholt. Es gibt zweifellos großartige Lehrkräfte, die durch Eloquenz, angenehme Stimme, Sympathie und Auftreten ihre Klassen fesseln können. Die packende Vorträge halten und den Schüler*innen wesentliche Inhalte vermitteln können.
Ich würde gerne dazu gehören, aber der Dunning-Kruger-Effekt erinnert mich daran, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit völliger Durchschnitt bin und es mir nur manchmal anders einbilde.
Mehr als einmal in meinem Leben habe ich den Unterschied zwischen Prozentwert und Prozentsatz erklärt, nur um in der nachfolgenden Stunde wiederum in leere Gesichter zu blicken. Mehr als einmal im Leben habe ich Klassenarbeiten korrigiert und mich gefragt, ob ich in den vergangenen Wochen vielleicht gar keinen Unterricht gemacht, sondern alles nur geträumt habe. „Ist denn überhaupt nichts hängen geblieben??“
Noch deutlicher wird das in stark frontal gelenkten Fächern wie Physik: Es wird erklärt und experimentiert, es gibt Lesetexte und Arbeitsblätter und doch… frage ich am Ende nach, was genau der Unterschied zwischen Arbeit, Leistung und Energie ist, herrscht großes Schweigen.
Wenn ein Sachverhalt nach viermaligem Erklären nicht verstanden wurde, wieso denken wir dann, dass es beim fünften Mal anders wird?
Natürlich ist der Drang nach mehr Fachunterricht hoch. Der Trugschluss lautet: In mehr Stunden kann ich mehr erklären und das führt zu besseren Noten.
Tatsächlich aber kann ich einem Menschen das Lernen nicht abnehmen. Es muss sich selbst auf den Weg machen. Sich selbst anstrengen. Das trifft Frau Müller, die mit abschweifenden Gedanken in einer Lehrerkonferenz sitzt genauso wie Mujahit im Deutsch-Unterricht.
Sowohl als Referent im Meeting wie auch als Lehrkraft im Unterricht ist den Zuhörer*innen am Besten gedient, wenn ich ein Setting schaffe, in dem die Adressaten genau jene Informationen und Hilfen bekommen, die sie gerade benötigen. Ich muss eine Lernumgebung vorbereiten und diese ins Zentrum des Lernens setzen.
Damit hat der neue Stundenplan schon etwas an Kontur gewonnen: Es gibt rar gesäten Fachunterricht und jede Menge Freiraum für die individuelle Gestaltung. Das eigene Lernen steht im Vordergrund. Als Lehrkraft habe ich genug Zeit und Raum, jene mit Material zu versorgen, die losspurten wollen und jene anzuschieben, die noch Hilfe benötigen.
Im Zentrum des „Fachlernens“ steht nun das Lernbüro und nicht mehr die einzelne Mathestunde. Damit verändert sich nicht nur das Maß an Eigenverantwortung für die Kinder – auch ich muss grundlegend mein Verständnis von Unterricht überdenken. Wenn ich nicht mehr ständig vorne stehen kann, muss ich anders unterrichten.
Aber, da fehlen ja noch jede Menge Fächer – wie sieht es damit aus?
Darum geht es beim nächsten Mal: Projektunterricht.