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Stresstest in meiner 5. Klasse

Stresstest in meiner 5. Klasse 1

Bei uns beginnen die Schultage mit einem dreißgminütigen Beratungsband: Dort klären wir Organisatorisches, verteilen die Kinder in die Lernbüros („Ich möchte heute lieber Englisch bei Frau Müller machen.“ „Ich bin mit meinem Deutschprojekt noch nicht fertig, ich gehe zu Deutsch.“) und beginnen gemeinsam den Schultag. Die Sitzordnung in meinem Klassenraum ist ein gewaltiger Stuhlkreis ohne Lehrerpult und ich genieße das gemeinsame Ankommen sehr.

Wann immer ich Zeit habe, nutze ich die Zeit auch für „mündliche Prüfungen“. Ein Freiwilliger steht auf und lässt sich von mir durch das aktuelle Thema in Mathematik oder NW vor den Augen der gesamten Klasse prüfen. Das erzeugt Druck und Aufregung und in meinen Fragen kitzle ich gerne mal heraus, wo die Grenzen des Verständnisses liegen. Von reiner „Reproduktion“ hin zu „Transferleistung“.

Ich tue das, weil viele Kinder nicht beurteilen können, ob sie ein Thema wirklich verstanden haben, oder nur glauben, es verstanden zu haben. „Lernen lernen“ ist so ein Schlüsselbegriff.
In der Konsequenz kommt es zu Situationen wie „Ich hatte bei der Klassenarbeit einen totalen Blackout.“ Hm hm. Niemand hat einen Blackout beim Fahrradfahren. Oder beim Aufzählen von geraden Zahlen. Bei Dingen, die wir wirklich beherrschen, gibt es keinen „Blackout“. Aber je unsicherer das Wissen, desto größer die Gefahr, unter Druck nicht liefern zu können. Aber diese Situationen kommen im Leben häufiger vor: Ob Führerscheinprüfung oder Vorstellungsgespräch, Examensprüfung in Englisch oder sonstirgendwas: Manchmal muss man auf den Punkt liefern.

Also üben wir die unangenehmste Form der Prüfung: Eine mündliche Prüfung vor großem Publikum.

Wenige Schülerinnen und Schüler trauen sich. Obwohl ich jeden Morgen scherzhaft ankündige, nachher dieses oder jenes Kind dranzunehmen, wissen alle genau, dass diese „Prüfung“ (die auch nicht bewertet wird) völlig freiwillig ist.

Mein Highlight vergangenen Woche: Eines der leisesten und vorsichtigsten Mädchen meiner Klasse meldete sich freiwillig.

Das zeigt: Die Kinder fühlen sich bei mir sicher. Sie wissen, dass ich niemanden zerlege und man hinterher weinend dasitzt. Sie können bei mir sehr genau zwischen Sachebene und persönlicher Ebene trennen: Ich kritisiere und lobe viel – aber das ist völlig unabhängig davon, dass wir einander wirklich gern haben.
Außerdem zeigt es mir: Die Kinder fühlen sich in der Klasse wohl. Niemand wird ausgelacht. Jeder respektiert den Mut, sich einer solchen Abfrage zu stellen. Es wird gelobt, gelobt, gelobt.

Für mich sind das entscheidende Indikatoren, die für eine erfolgreiche Schulkarriere eminent sind: Nur, wenn ich den Lehrkräften vertraue und nur, wenn ich mich in der Lernatmosphäre meiner Klasse wohlfühle, kann ich auch wirklich lernen.

Also wird weiter geprüft. Vor versammelter Mannschaft. Immer und immer wieder. Bis auch das leiseste Mäuschen der Klasse diese Situation als Routine empfindet.

Ein Gedanke zu „Stresstest in meiner 5. Klasse“

  1. Deine Schüler/innen haben Glück, einen solchen Lehrer zu haben! Ich war eigentlich eine gute Schülerin, aber vor dem Reden vor Gruppen hatte ich immer Angst. Habe deshalb auch auf das mündliche Abitur verzichtet, obwohl ich mich nur hätte verbessern können.
    Besonders schlimm war der Unterricht in Mathe. Nicht weil der Lehrer besonders „bösartig“ gewesen wäre, er schaffte es einfach nicht, die Dinge verständlich zu erklären und vor allem so, dass man sich nachfragen getraut hätte. So kam es, dass eines unserer „Mathe-Genies“ die halbe Klasse am Nachmittag vor einer Klassenarbeit bei sich zuhause versammelte und wir gingen den Stoff durch (Kurvendiskussion!). Er fragte: Wo soll ich anfangen? Worauf jemand meinte: Beim Winkel! Er zuckte nicht mit der Wimper, sondern begann bei den Basics und bis in die Nacht hatten wir alle Kurvendiskussion verstanden. Weil niemand Angst vor dem Fragen hatte. So konnte Lernen also auch sein!

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