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Kinderkrippen in der Steinzeit

Kinderkrippen in der Steinzeit 1Seit etwa einem halben Jahr wacht meine jüngste Tochter nachts zwei- oder drei- oder auch fünfmal auf. Jede Nacht. Jede einzelne Nacht. Und weil sie (besonders nachts) ein störrischer kleiner Esel ist, lässt sie sich mal die Nase putzen und mal nicht, steckt mal in ihren Träumen fest und mal nicht. Lässt sich mal beruhigen und mal nicht. Seit einem halben Jahr haben meine Frau und ich im Grunde keine vier Stunden am Stück geschlafen.

Während ich als Frühaufsteher die Zeit früher zum kreativen Arbeiten und Schreiben nutzen konnte, versinke ich aktuell in meinem Kaffee und beaufsichtige eine zweijährige, die begeistert Buden baut, mit Knete spielt, die Hunde dressieren will und ungeduldig darauf wartet, dass der Kindergarten endlich öffnet. Ihr scheinen die fragmentierten Nächte nichts auszumachen. Wie ein Duracell-Hässchen spielt und plappert und rennt sie den ganzen Tag umher, singt, tanzt, springt bis man sie abends ins Bett legt und schläft dann augenblicklich ein. Zumindest für einige, wenige Stunden.

Kinderkrippen in der Steinzeit 2

Ich dagegen bin froh, dass ich meinen neuen Roman in den Herbstferien fertiggestellt habe und die letzten Wochen ausschließlich zum lektorieren und redigieren nutzen konnte. In vier Tagen wird publiziert und ich freue mich sehr. Aber kreatives Arbeiten gerade? Fehlanzeige.

Unter den schlaflosen Nächten leiden am Ende auch meine anderen Töchter.
Einer Studie aus den 50ern zufolge haben Lehrkräfte in einer Schulstunde bis zu 200 Entscheidungen zu treffen und dabei im Durchschnitt 15 „erzieherische Konfliktsituationen“ zu meistern. Man mag sich ausmalen, dass dies 70 Jahre später nicht groß verändert hat. Nach einem langen Schultag führt das zur sogenannten „Entscheidungsmüdigkeit„: Nachmittags sollten Lehrkräfte keine Verträge mehr unterschreiben dürfen – man ist oft nur noch matschig in der Birne.

Wie viel Lust und Energie habe ich nachmittags und abends noch für Schachspielen, Geschichten lesen, Hausaufgaben und aufräumen?

Um nicht völlig unterzugehen, habe ich vor einigen Wochen angefangen, ein Bullet Journal zu führen – und das tue ich immer noch. Mittlerweile ist mir die stichwortartige Protokollierung meiner Tage routiniert in Fleisch und Blut übergegangen und wirklich wichtig geworden. Eine Art kontemplativer Übung, die frühmorgens (und manchmal auch spätabends) den Geist entspannt.

Das Journaling wirkt der Filterfunktion meines Hirns entgegen: Ich vergesse quasi augenblicklich, was mir nicht eminent wichtig erscheint: Namen meines Gegenübers, Einkaufsaufträge meiner Frau, Erzählungen meiner Kinder, Terminvorschläge von Kollegen.
Um nicht unterzugehen, werden Handy, Laptop & Co zu einem „second Brain“: Die Einkaufsapp „Bring“ entscheidet darüber, was eingekauft wird, mein Kalender darüber, wann ich mit wem spreche. Kollege Mess hat darüber gerade geschrieben. Das Journal hilft mir, den Tag im Vorhinein zu strukturieren und im Nachhinein Erlebtes nicht zu vergessen. Gold wert.

Zum „Filtern“ habe ich vor ein paar Tagen Neues gelernt:

Bisher habe ich gedacht, das (soziale) Internet ist deswegen so aggressiv, weil ‚man‘ sich ständig in seiner eigenen Blase („Filterbubble“) bewegt und die eine falsche Wichtigkeit der eigenen Meinung suggeriert. Das eigene, homogene Umfeld wirkt  als Verstärker.
Diesem Ansatz zufolge ist das aber falsch: Unser echtes Leben ist die wahre Blase: Im Kleingartenverein treffen wir andere Kleingärtner, in unserer Freizeit treffen wir unsere Freunde. Alles homogen.
Im Internet dagegen werden wir ununterbrochen mit anderen Meinungen konfrontiert: Veganer. Flexitarier. FDP-Wähler. Atomkraftanhänger. Elektrofahrzeugbefürworter. Feministen. Schalke-Fans.
Unser Hirn, dass im Grunde noch ein Steinzeit-Verstand ist, kommt damit nicht klar und reagiert mit Überforderung: Wir gegen die. Aggression.

Diese Argumentation empfinde ich als nachvollziehbar und bestätigt mich (Uh.. „confirmation bias„!) in meiner Entscheidung, im Internet rigoros zu filtern: Ich liebe mein twitter bluesky-Lehrernetzwerk, aber alles, was mir auf den Zeiger geht, blocke ich weg. Ich informiere mich gern, diskutiere online aber ungern.
Und auch im richtigen Leben pflege ich mein Steinzeithirn: Um Energie zu sparen, vergesse ich alles, was kein Säbelzahntiger ist, der mir nach dem Leben trachtet.

Anders wären die Nächte gerade auch nicht zu überstehen. Hatten die Steinzeitmenschen schon Kinderkrippen?

Ein Gedanke zu „Kinderkrippen in der Steinzeit“

  1. Steinzeit keine Ahnung, aber im Mittelalter war’s wohl so:
    „Jahrhundertelang war es für die Menschen sehr ungewöhnlich, nachts durchzuschlafen.
    Diese Entdeckung hat vor einigen Jahren der US-amerikanische Sozialhistoriker Robert Ekirch gemacht. 2001 veröffentlichte er einen Aufsatz, in dem er seine Recherchen zu Schlafgewohnheiten vor der Industralisierung zusammenfasste. Das zentrale Ergebnis: Die Menschen im Mittelalter, aber auch teils schon weit davor, praktizierten einen „biphasischen Schlaf“. Das heißt, dass sie zwischen zwei Schlafphasen mitten in der Nacht stundenlang wach waren.“
    https://www.stern.de/panorama/wissen/mensch/biphasischer-schlaf–im-mittelalter-schlief-man-zweimal-pro-nacht-31548844.html

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