§1 des Schulgesetzes in NRW verlangt von mir die “Bildung, Erziehung und individuelle Förderung” eines jeden Schülers. Grundwissen eines jeden (Ex-)Referendars und von unserem Seminarleiter seinerzeit immer wieder abgefragt.
In letzter Zeit bekomme ich jedoch mehr und mehr Bauchschmerzen bei dem Auftrag, jedes Kind immer wieder zu fördern.
Nicht, dass wir uns missverstehen: Ich halte “individuelle Förderung” für ganz wichtig – aber mindestens für genauso problematisch. Denn übermäßige Förderung kann zu einer Form “erlernter Hilflosigkeit” führen.
Ausnahmslos alle Schüler kommen in meinem Unterricht an Punkte, an denen sie überfordert sind. Bewusst. Neuartige Problemstellungen, komplexe Zusammenhänge, abstrakte Begriffe. Überforderung führt zu Anstrengung.
Aber die “überförderten” Schüler geben deutlich schneller auf, als die anderen. Sie sind gewohnt, dass irgendwer ihnen alles vorkaut. Entweder der Banknachbar. Oder der Lehrer. Oder Mama. Oder der Nachhilfelehrer. Oder Google.
Bei einigen Fällen hat das Unglück in der Grundschule begonnen. Einzelne Schüler wurden so sehr gefördert, dass sie in “normalen” Unterricht kaum mehr zu integrieren sind. Das ist auch kein Wunder: Wenn ich zwei Jahre lang in einer fünfköpfigen Fördergruppe sitze, die sich meinem Tempo anpasst, ist der Umstieg in eine 30köpfige Klasse mit ein paar Granaten immer schwer.
Für mich – als Lehrer – stellt sich bei jedem Einzelnen die Frage: Wie reagiere ich angemessen darauf?
- ich kann jener Gruppe Schülern immer einfachere Aufgaben und immer mehr Hilfen und Tippkarten bereitstellen
- ich kann ihnen einen (pädagogischen) Tritt in den Hintern geben und mehr Leistung fordern
Die viele “Förderung” geht vielleicht auch einher mit einer wachsenden Zahl an medizinischen Diagnosen.
- statt dass der Felix lernt, mal zehn Minuten die Klappe zu halten, wird es mit ADS entschuldigt – er braucht halt eine spezielle Aufmerksamkeit
- statt dass der Felix mit 16 Jahren lernt, wie man korrekt schreibt, kommt er mit attestierter LRS immer durch – er braucht halt eine spezielle Förderung
- statt dass der Felix das kleine Einmaleins lernt, darf er mit Dyskalkulie den Unterricht entspannt an sich vorbeiziehen lassen.
- ich habe erlebt, dass ein Kind von den Eltern vom Schwimmunterricht befreit wurde – wegen einer Laktoseintoleranz… [sic!]
Wie immer ist natürlich eine Mischung wichtig und die Betrachtung jedes einzelnen Schülers. Tendenziell aber – obwohl ich in meinem Unterricht viel differenziere – bin ich eher der Typ für Möglichkeit 2 (und das hat mir im Referendariat einigen Ärger eingebracht.. ): Der pädagogische Tritt.
Die “Überförderung” von Schülern führt mE dazu, dass sich der Lerninhalt immer mehr und mehr dem Schüler anpasst und nicht umgekehrt. Leider läuft es außerhalb des Wohlfühlortes Schule genau andersrum: In der Ausbildung, im Studium, im Beruf.
Meine Geschwister waren in Belgien auf der Schule – und das hieß ab der Grundschule bis nachmittags durchgängig Unterricht. Und zwar nicht AGs oder Projekte, sondern richtiger Unterricht. Eine Bekannte von mir merkt in Lüttich an der Uni gerade, dass sie den Belgiern hinterherhinkt.
Ich bin ganz sicher kein Fan eines bayrischen oder baden-württembergischen, leistungsorientierten Schulsystems – aber wir tun unseren Kindern auch keinen Gefallen, wenn wir es ihnen immer leichter und leichter machen und sie hier und da und dort fördern.
Ich glaube außerdem, dass es einigen (älteren) Schülern durchaus gut tut, mal richtig Schiffbruch zu erleiden – und einen pädagogischer Tritt in den Allerwertesten kann man auch als “individuelle Förderung” betrachten, nicht wahr?
Puh, hatte ich ein glück. Mir wurde eigentlich immer ein pädagogischer tritt in den Po gegeben, das sogar in der Förderschule. Und ich habe es von da aus bis zum Abi geschafft. Und es war egal ob ich Dyskalkulie habe, Ich habe trotzdem eine 5 im Abschlusszeugnis im Fach Mathematik bekommen. Die Förderung die ich bei Problemen in einem Fach bekommen habe waren Tipps, wie ich besser lernen kann, oder wie ich auf anderem weg ein Ergebnis erhalten kann. (und nein, es ist nicht das Spicken gemeint, obwohl allen geraten wurde, einen Spicker zu erstellen, aber ihn nicht zu Benutzen.)
🙂
Ja. Ich habe gar kein grundsätzliches Problem mit individueller Förderung wie sie im Buche steht – aber in der Praxis hat sie oft bescheidene Auswirkungen.
Hallo junger Mann,
haben Sie dann vielleicht nicht etwa Ihren Beruf verfehlt?
Sind Sie der Meinung, dass alle Schüler in der gleichen Zeit den gleichen Stoff mit den gleichen Methoden erlernen können und sollen? Wenn ja, dann haben Sie in Ihrer Ausbildung vielleicht noch nichts davon gehört, wie der Mensch lernt und dass es jeder auf unterschiedlichen Wegen tut? Denn individuelle Förderung heißt doch nicht, dass jeder Schüler extra betüdelt wird, sondern dass den einzelnen individuellen Lerntypen und auch den Lernvoraussetzungen gerecht wird, dass der Stoff nicht nur nach Schema F im Frontalunterricht den Schülern vorgesetzt wird, dass mit verschiedensten Methoden die Schüler aus der Reserve gelockt werden und und und. Ich empfehle Ihnen z.B. mal die Lektüre von Manfred spitzers Werken, aber auch Frederic Vesters „Denken, Lernen und Vergessen“ ist nach wie aktuell und lesenswert.
Übrigens sind Dyskalkulie und LRS anerkannte Teilleistungsstörungen, die therapiert werden müssen. Vielleicht sollten Sie mal entsprechende Weiterbildungen besuchen, umzu erfahren, wie man als Lehrer solche Störungen erkennen und dann mit den Eltern zusammen Wege zur Behandlung und auch zur Förderung finden kann.
Nun mal langsam.
Ich stimme Ihnen in Ihrer Beschrebung von individueller Förderung absolut zu. Denn ja, genau das tue ich immer wieder: Schülern mit unterschiedlichen Niveaus mit differenziertem Material zu begegnen und – wenn möglich – verschiedene Lerntypen ansprechen. Frontalunterricht gibt es bei mir so gut wie gar nicht – würden Sie den Blog häufiger lesen, wüßten sie das. Mein Mathematikunterricht besteht zu 90% aus offenem, differenzierten Arbeiten.
Mein Problem ist, dass ich aber genau das oft nicht erlebe. Sondern Förderung ist verbunden mit „Betüdelung“. Sehen Sie sich den Screenshot von der Mail eines Schülers der 9. Klasse an. Das erlebe ich als Konsequenz. Alles wird entschuldigt und gefördert. Als ob jener beispielhafte Autor besser schreiben lernt, wenn er einmal pro Woche im bunten Malheft Silben übt.
Nochmals: Ich fördere. Aber ich fordere auch. Und ich erlebe allzuoft, dass bei aller ‚Förderung‘ das ‚Fordern‘ vergessen wird.
Hallo ältere Dame,
es geht doch gar nicht darum, dass Herr Klinge nicht fördern würde oder fördern wollte. Aber erinnern Sie sich bitte an den Witz, in dem Schüler unterschiedlicher Schulformen die gleiche Rechenaufgabe bekommen und die letzten nur noch Bilder ausmalen müssen. Wir haben hier so unterschiedliche Kinder an der Gesamtschule, dass fördern lebensnotwendig ist, um alle im Verband zu halten. Dabei ist es aber zwingend notwendig, dass die Kinder lernen, dass sie sich auch selber anstrengen müssen, dass sie selber ihre Sachen überarbeiten oder gegebenenfalls alles noch einmal machen müssen. Ein Auszubildender braucht doch auch ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz und muss sich durchbeißen können. Einige Kulturtechniken und Kernkompetenzen braucht jedes Kind, um in der Gesellschaft mitschwimmen zu können. Und wir als Lehrer werden dafür bezahlt, dass ich den Kindern freundlich und mit Nach-Druck in den Hintern trete, bis sie bestimmte Dinge können. Denn wenn ich das nicht mache, dann wollen die Kinder/ Jugendliche alles vorgekaut bekommen und wollen alles in kleinsten Portionen, bitte in rosa mit Glitzer und Animation geboten bekommen. Deswegen auch die Bitte in der Email oben: Der Lehrer soll die Arbeit machen und der Schüler saut das so dahin.
Ich finde es eine Frechheit, wie dieser Lehrer sämtliche Erkenntnisse der Entwicklungsbeeinträchtigung ignoriert und sich gegen die individuelle Förderung ausspricht.
Gemach!
Sie haben meine Aussage missverstanden.
Werte Mutter/Pädagogin/Förderkraft
Zwei Tipps:
1) sinnentnehmend lesen
2) bei Antworten nicht generalisieren (= verallgemeinern)
So ein Quatsch! Herr Klinge spricht sich gerade für individuelle Förderung aus! So wie ich ihn verstehe bedeutet individuelle Förderung für ihn vor allem, die SuS in einer angemessenen, pädagogisch vertretbaren Art und Weise zu fordern. Lernen als Wissenskonstruktion bedeutet, dass der Lerner (ich betone: NUR der Lerner selbst!), neue Wissenstrukturen aufbaut, indem er bereits bestehende kognitive Strukturen fortwährend ergänzt und verändert. Die Schule steht in der Verantwortung, einen systematischen, miteinander verknüpften Aufbau des Wissens bei den SuS gezielt zu fördern. Durch eine differenzierte Unterrichtsgestaltung können Lehrer so eine individuelle Förderung ermöglichen, indem sie ihre SuS gemäß ihrer Vorkenntnisse, Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten fordern. Wie soll das denn anders gehen- ohne jegliche Anstrengung, ohne eine gezielt ausgerichtete Aufmerksamkeit, ohne Eigenitiative, ohne Probleme, ohne EIGENE Fragen? Ich kann verstehen, wenn sich Herr Klinge über Fehlinterpretationen individueller Förderung und Weichspülmethoden, die ins Leere laufen, aufregt. Der Anspruch der individuellen Förderung ist eben ein sehr hoher, der die LuL in der Praxis vor große Herausforderungen stellt.
Einfach nur ruhig bleiben, solche Unterstellungen von fachfremden Personen sollten ausbleiben, aber vermutlich sagen Sie sogar dem Busfahrer, dass er den falschen Weg fährt. Werden Sie lieber Kultusministerin (oder wie es je nach Bundesland heißt) und verändern Sie die Welt mit Ihren 68er Ansichten, oh, das machten bereits viele vor Ihnen, mit den Folgen des heutigen Chaos im Bildungssystem.
Es ist ein großer Unterschied zwischen individueller Förderung, welche grundsätzlich richtig ist, und intellektueller Überforderung von SuS, die mit der weiteren Forderung nach Förderung niemals ausgeglichen werden kann, denn es gibt nun einmal unterschiedliche, genetisch und aus dem sozialen Umfeld hervorgehende Intelligenz der SuS!
Hätte niemals die Nerven, einen solchen Blog zu betreiben, toll Herr Klinge!
DAS würde ich sofort unterstreichen.
Individuelle Förderung ist wichtig und sinnvoll.
Aber es wird tatsächlich viel zu viel vorgekaut.
Das darf ich aber im Lehrerzimmer nicht laut sagen, da gehen sofort einige Kolleginnen auf mich los.
Als Bsp. könnte ich die Deu Prüfungen anbringen. Das Anforderungsniveau geht immer weiter runter. Wir passen uns an das sinkende Leistungsniveau der Schüler an.
… und ein kurzer Hinweis an Mutter/Pädagogin/Förderkraft … WER LESEN KANN; IST KLAR IM VORTEIL! 😉
Danke. 🙂
An Sächsin:
Dies stimmt, und daher ist die Frage, welche bildungspolitisch nicht gewollt ist, doch klar: Warum werden die Anforderungen im Abitur immer weiter nach unten ,,geschraubt“? Da erfolgt ein Missverständnis des Begriffs Fördern. Es gibt zu viele SuS an den weiterführenden Schulen, welche vor 20 Jahren dort nie gewesen wären, zu gelockerte Übergangsregeln zum Gymnasium usw., von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden, teils auch die Auslagerung dieses ,,Problems“ an die Gesamtschulen. Da der Input den Output nicht zu sehr unterschreiten darf und die Schulen systemintern unter ,,Konkurrenzdruck“ stehen, tritt diese von Ihnen korrekt wahrgenomme Folge zwangsweise ein.
Hallo, hier gehen ein paar Dinge durcheinander. Schreibt sich natürlich netter in einem Blog 😉 In Deutschland wird individuelle Förderung meist missverstanden. Dann wird auf Skandinavien gezeigt etc. dort wird nämlich individuell gefördert. Aber nicht in dem Sinne wie es hier in Deutschland und auch im Blog/Kommentaren angesprochen wird. Individuelle Förderung heißt nicht, dass ich den Kindern ein weiches Sitzkissen unterlege und alles tue um ihr Leben nett zu gestalten. Dies nicht zu tun heißt aber auch nicht, dass man Kindern nur schlechte Noten geben sollte oder sie durchfallen lassen muss. Es wird doch immer wieder deutlich von der modernen Hinrforschung hervorgehoben, dass Kinder gefordert werden müssen. Auch an oder über ihre Grenzen hinaus. Die individuelle Förderung liegt darin, genau bei jedem Kind zu beobachten, wie so eine Grenzerfahrung abläuft und wo die Grenze liegt und dem Kind zu helfen, positive Grenzüberschreitungserfahrungen zu machen. Zusätzlich sollen auch die vergeblichen Versuche und die Rückschläge möglichst positiv belegt werden, um die Durchhalterkräfte zu stärken. Alles Dinge, die jeder Erwachsene u.a. im Karrierecoaching 10000 mal gesagt bekommt und leider nie als Kind gelernt hat. Die Leistung eines sehr guten, intelligenten Schülers können trotz 1 im Klassenschnitt, sehr sehr schlecht sein. Denn er könnte für sich viel mehr leisten. Während wiederum ein schwieriger Schüler eine relativ schlechte Leistung bringt, jedoch in seiner Entwicklung hart daran gearbeitet hat, diese Grenze für sich zu erreichen. Was sollte nun positiver bewertet werden und was genau führt zu einer guten Lern- und Arbeitseinstellung? Stichwort Resilienz ….
Schöne Idee, doch bitte einmal einen praktischen Vorschlag, wie dies bei 35 SuS einer 8. Klasse umgesetzt werden soll, v.a. da man die 35 SuS in der Woche maximal 180, minimal 45 Minuten sieht! Und nebenbei komplexen, differenzierten Unterricht abhält …
Ganz genau das ist das Problem: Die „Überförderung“. Hier in Bayern hab ich dass schon so beobachtet: Grundsätzlich wollen ALLE Eltern, dass ihr Kind aufs Gymnasium geht, weil sie nur das Beste für ihre(n) Schützling wollen. Und wenn dann in der Grundschule die Noten in Deutsch oder Mathe nicht passen, wird zum Arzt und Psychologen gegangen und dem Kind wird eine Lernschwäche attestiert. Damit sich die Eltern damit abfinden können, dass die Leistungen des Kindes nicht ihren Träumen entsprechen… Wenn ein Kind in der ersten Klasse mit seinen zarten sechs Jahren noch ein bisschen zappellig ist und es nicht schafft, 2 Stunden am Stück still zu sitzen, wird auf AD(H)S plädiert und ’ne ordentliche Portion Ritalin verschrieben – willkommen in der Abhängigkeit. Manch ein Schüler benötigt einfach ein bisschen Zeit und Übung, um die Sachverhalte zu verstehen, aber wenn das Kind von Anfang an „überfördert“ wird findest es sich mit seinem Status „Ich bin krank und kann die Leistung nicht bringen“ ab, es fehlt die Motivation, weil ja keine Besserung in Aussicht steht und die Leistungen sinken weiter/bleiben auf dem gleichen (schlechten) Stand. Ein schönes Wochenende, Nina
In Sachsen wurde das auf die Spitze getrieben!
Der Durchschnitt, um aufs Gym zu kommen, wurde auf 2,5 gesenkt. UNGLAUBLICH!
Das hat man dann im nächsten Jahr gemertkt, als einige vom Gym wieder zur Mittelschule wechselten.
Jetzt ist der Durchschnitt wieder auf 2,0 … zum Glück.
Wie gesagt – es geht mir gar nicht so sehr um Leistungsdruck (obwohl ich genau weiß, was du meinst).
Mir geht es um die Überförderung der leistungsschwachen Schüler, die gerne, bitte (!) unbedingt allesamt großartige Karrieren machen sollen und dürfen. Ich empfinde es als wichtigen Teil meiner Arbeit, gerade diesen Kindern beizustehen. Die Frage ist nur: Wie? Fördern oder fordern?
Ich behaupte: Durch übermäßiges (falsches?) Fördern schadet man den Kindern immens.
Sie widersprechen sich in Ihren Aussagen. Deshalb sollten Sie sich nicht wundern, wenn sie deshalb Kritik einstecken müssen. Sie sollten vlt. mal deutlicher ausführen, was Sie unter Überförderung verstehen. Das kann man leider nicht nachvollziehen.
Ich finde Ihren Artikel unklar und widersprüchlich. Er ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die tatsächlich unter angesprochenen Teilleistungstörungen leiden.
Ich bitte Sie… Kaum äußert man eine Meinung, empört sich wieder jemand. „Ein Schlag ins Gesicht“, eine „Frechheit“ und so weiter…
Wäre der Artikel besser gewesen, ich hätte ihn politisch korrekt auf 38 Seiten formuliert? Und ja die Minderheiten, Behinderten, Linkshänder und Vegetarier gesondert erwähnt? Bestimmt.
Wäre er von irgendwem gelesen worden? Nein.
Ich schreibe hier keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Alltags-Erfahrung.
Wenn Sie mich missverstehen wollen, dann kann ich das auch nicht ändern.
Und bitte: Ich kann eine echte ADHS-Störung von einem Lactose-Kind unterscheiden – trotzdem bekomme ich es im Alltag mit beidem zu tun.
„Überförderung“ findet z.B. statt, wenn ein Förderlehrer den Stift eines 13jährigen führt. Oder ihm die Antworten in den Mund legt. Oder ihm sofort hilft, statt ihn mal überlegen zu lassen. Das sehe ich immer wieder. Die Folgen sehe ich jeden Tag.
Deswegen ist der Beruf des Lehrers/ der Lehrerin hochprofessionell. In der Regel können wir sehr gut erkennen, was ein Kind leisten kann und auf welchem Gebiet schwächen sind. Ich kann als Deutschlehrerin mit vielen Jahren Berufserfahrung eine LRS von einem Ich-habe-keine-Lust-mich-zu-konzentrieren-Syndrom unterscheiden. Niemals würde ich ein LRS-Kind ermahnen, doch mal bitte endlich richtig zu schreiben. Ermutigung ist hier viel hilfreicher. Aber eine völlig unleserliche Schrift und hingeschmierte Arbeit nehme ich nicht ohne Widerspruch hin. Oder was sagen Sie später dem Fliesenleger, der den Boden leider nicht gerade legen kann? „Ah, ich sehe sie haben ADHS und können nicht sauber arbeiten. Schwamm drüber….?“
Herr Klinge – Sie bereichern eine werdende Lehrerin. Noch nie derartig durchdacht (weil noch nicht lehrend tätig), hier in Hamburg aber akut aktuell: ich habe da noch nicht komplett den Durchblick gewonnen, aber anscheinend kann man sich als Lehramtsstudent an jeder Hamburger Schule als Förderlehrkraft das Portemonnaie mästen… ich bin gespannt, welche Art von Förderung hier praktiziert wird.
Die Nachhilfe-industrie ist nochmal ein anderes Feld, als die fragwürdige individuelle Förderung in der Schule.
Bis zu fünf Milliarden Euro geben Eltern jährlich für Nachhilfe und Lernmittel aus, schätzt das Statistische Bundesamt. Unfassbar.
Nicht direkt – das ist eine vom Land geförderte Sache, die voll und ganz in den Schulalltag integriert ist – wenn ich das richtig verstanden habe.
Den Nachhilfe-Hype schreibe ich allerdings auch dem unfassbaren Leistungsdruck durch diverse Schulerformen („SpeedAbi“) zu..!
Na, als betroffener hamburger Förderlehrer möchte ich doch etwas zurechtrücken. Leider können wir unser Portemonnaie nicht „mästen“ und Studenten sind meine Kollegen und ich auch schon lange keine mehr. Wir können aber im Idealfall drei Parteien helfen: Den schlechten Schülern, den Lehrern und den guten Schülern. Und die Resonanz von allen Seiten zeigt, daß wir das auch oft schaffen. Wir sind aber auch in einem Stadtteil, der „von der Einkommensteuer gering belastet “ ist und unsere Förderung ist oft die einzige, die unsere Kinder erhalten werden. Hier sehe ich sie als wirklich wichtig an.
Stimme Miriam und Nina (und auch Jan) uneingeschränkt zu. Lernen zu fördern heißt auch Leistung zu fordern. Und auch ich hab das Gefühlt, das in den letzten Jahren die Diagnosen an LRS, LHDS, ADHS und alles andere mit 3 und mehr Buchstaben immer mehr zunimmt. Liegt das nur daran, dass füher niemand auf die Kinder eingegangen ist und es nicht diagnostiziert wurde?
PS. In meinem Unterricht nimmt der Frontalunterricht einen gleichwertigen Platz neben anderen Unterrichtsformen wie Lerntheken, Einzel- Gruppen-, Partnerarbeit, usw… , da ich finde das dies manchmal die beste Unterrichtsform für einzelne Themen ist. Genauso wie ich manchmal auf Schülerübungen im Physikunterricht zurückgreife anstatt ein Demonstrationsexperiment durchzuführen.
Physik ist nochmal anders als Mathematik.
Viele Formeln, Überlegungen und Experimente muss man von vorne steuern – dort ist der Frontalunterricht bei mir auch deutlich stärker, als im Mathematikunterricht.
Ich fürchte auch das bei zappeligen Kinder zu schnell Lernschwächen diagnostiziert werden. Das Problem ist das die Kinder die tatsächlich unter einen solchen leiden oder unter Hyperaktivität dann von so manchem Lehrer nicht mehr ernst genommen werden. Kaum verwunderlich. Wenn sie in Ihrem Schulalltag ständig „kranken“ Kindern begegnen, die doch eigentlich nur mal lernen müssten sich zu konzentrieren. Schade für die Kinder mit tatsächlichen Lernschwächen wenn die sich dann anhören müssen es läge an Ihnen uns sie müssten nur jeden Tag ein paar silben in bunte Heftchen malen und dann wäre die Welt wieder in Ordnung!
In der Tat.
Grundsätzlich ist ja die Schwierigkeit, nicht still sitzen zu können ja erstmal gar kein Problem. Die Frage ist nur, wie ich dem begegne.
Und um das völlig klar auszudrücken: Ich habe wenig Lust, den Blogeintrag mit politisch korrekten Floskeln in die Länge zu ziehen, aber natürlich „ist jedes Kind anders“ – ich weiß nicht, ob ich das noch mehr ausführen muss. 🙂
Wasser auf meinen Mühlen! Ich studiere Lehramt für Gymnasien (übrigens im wunderschönen Siegen…) und habe dieses Semester ein Seminar zur individuellen Förderung, daher finde ich diesen Denkansatz furchtbar interessant. Aus diesem Blickwinkel hab ich die ganze Sache noch gar nicht betrachtet, vielleicht wird die Veranstaltung jetzt in den nächsten Wochen ein bisschen interessanter 😉
Mir kommt das irgendwie auch schrecklich bekannt vor… Kinder sollten doch dort abgeholt werden wo sie stehen und dann bitte nicht auf der Stelle oder gar wieder und wieder einen Schritt zurück geführt sondern auf ihrem Weg angemessen begleitet und vorallem vorangebracht werden. Mit einer gesunden Mischung aus Fordern und Fördern,Ansprüchen und Hilfestellungen.Leider kennen das Rezept aber nur sehr wenige,so dass meist vom Fördern zuviel und vom Fordern eine Prise zuwenig dazugegeben wird, was zur Folge hat, dass der Kuchen nicht aufgeht und fad im Geschmack ist…Und es ist wohl fast unmöglich, aus diesem verunglückten Backversuch dann noch eine schmackhafte Delikatesse zu zaubern…. Hmm, man sollte vielleicht besser nicht mit knurrendem Magen einen Kommentar verfassen… 🙂
Sehr schön formuliert 🙂
Man müsste einfach die richtigen Kompetenzen (individuell) fördern, damit die SuS lernen, sich selbst fordern zu wollen! Kompetenzen dafür könnten Neugierde- und Anstrengungsbereitschaft, Interesse sowie mutiger Verstandesgebrauch sein. Eigentlich klassisch menschliche Vermögen; dennoch vllt. durch die angesprochene ‚Überfürgsorglichkeit‘ bereits etwas verkümmert: Klassische Differenzierung, ohne den Grad der Überfürsorge wäre wohl das Ideal.
Ich stimme dem Post voll und ganz zu.
Förderung ist notwendig. Wenn ein Kind in der für ihn angemessenen Schule Probleme hat dem Unterricht zu folgen. Und da genau liegt m.M.n. das Problem. Hier in Bayern haben wir traumhafte Übertrittsquoten, 75% der Grundschüler haben seit der 3. Jgst Nachhilfe. Wer trotzdem „schwächelt“ wird mit ärztlichen Bescheinigungen ausgestattet.
Und am Gymnasium müssen diese Kinder dann besonders gefördert werden? Ach nee!!??
Ich habe in meiner Klasse ein „10-Minuten-Frageverbot“ eingeschult, wenn neue komplexe Mathematikaufgaben gestellt werden. Der Effekt: Die überförderten Schüler versuchen nicht etwa, sich mit dem Problem zu beschäftigen – nein, sie starren auf die Uhr, wann die 10 Minuten endlich vorbei sind und sie sich den Lösungsweg vor irgendjemandem vorkauen lassen können.
Genau diese Erfahrung meine ich!
> kein Fan des bayrischen oder baden-
> württembergischen,
> leistungsorientierten Schulsystems
Schulen in BWü kenne ich nicht, aber für das bayerische Gymnasium kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass es mit der Leistungsorientierung schon seit vielen Jahren steil bergab geht!
Eine weitere wichtige Frage ist dabei aber auch: Wie gehen Kind und Eltern mit der Diagnose (LRS, Dyskalkulie, AD(H)S, …) um? Meiner Meinung nach hängt der Fördererfolg auch davon ab.
Ich habe bisher zwei unterschiedliche Reaktionen erkannt:
* Eltern und Kind nehmen die Diagnose an und überlegen gemeinsam mit den Lehrern was man machen kann und wie es damit weitergeht. Bei dem Fall aus meiner Klasse ist die Meinung: „Ok., du hast dieses Problem. Dadurch hast du es schwerer als andere. Also müssen wir daran arbeiten.“ Zwischen den Eltern und mir kommt es städnig zu einem Austausch.
* Eltern und Kind bekommen die Diagnose. Eine Erklärung für die Probleme ist gefunden. Gut. Die Leistungen bessern sich trotz Fördeurng nicht. Alles wird erklärt: „Mein Kind ist doch krank, kann das doch nicht. Also nehmen Sie doch mal Rücksicht.“
Beide Fälle sind mir häufig begegnet. Der Fördererfolg ist bei der ersten Gruppe deutlich größer. Da kann man auch was fordern. Bei der zweiten Gruppe stagniert viele Förderung. An Fordern ist kaum zu denken.
Die Einstellung zu den Teilleistungsstörungen im direkten Umfeld der Schüler ist meiner Meinung sehr entscheidend über den Erfolg einer Förderung.
http://www.focus.de/schule/schule/bremen-am-ende-voellig-anspruchslos_aid_838236.html
passt irgendwie zum Thema, auch wenn es nicht direkt um die individuelle Förderung geht
In NRW kommt noch eine juristische Komponente hinzu: Wenn nicht lückenlos die individuelle Förderung nachgewiesen wird, wird gerne schon mal einem Noteneinspruch stattgegeben.
Jedoch ist nirgends festgelegt wann der Lehrer genügend gefördert hat, sodass es einige Schüler und auch Eltern gibt, die sich gerne darauf ausruhen und deren eigene Mitarbeit gegen 0 geht. Oder die verlangen, dass der Lehrer sich doch bitte in einer Freistunde mit dem Sprößling hinsetzt und es nachmal ganz individuell erklärt.
Ich finde den Eintrag weder „eine Frechheit“ noch einen „Schlag ins Gesicht“ noch in irgendeiner Passage „widersprüchlich“.
Tatsächlich scheint es Trend zu sein, Faulheit, Lernunwille oder schlichtes Desinteresse durch Atteste entschuldigen zu wollen.
Dabei spielen die – auch in der Literatur zu findenden – „Helikoptereltern“ durchaus eine Rolle, die sich insofern um ihr Kind kümmern, als dass sie sich nicht mit ihm beschäftigen (und ihm was beibringen oder einfach mal Zeit mit ihm verbringen), sondern lieber bei Lernrückständen (oft unprofessionelle) Nachhilfe zur Rate ziehen und als letzten Ausweg den Gang zum Arzt sehen.
Wenn ich sehe, wie an der Schule, an der ich tätig bin, Schüler gefördert werden, wird mir schlecht. Das Budget reicht nicht, aber die Zahlen (Versetzungen, Gesamtzahl der Schüler an der Schule) müssen stimmen, damit weiter Geld vom Land kommt.
Jetzt also der Spagat:
Kinder ohne (neuronale) Lerninsuffizienz (die aber mit einer solchen diagnostiziert sind) werden ohnehin bevorzugt behandelt (was dann kein Problem ist, wenn die Diagnose auch der Tatsache entspricht!).
Kinder, die „einfach so“ schwach sind, werden aber noch irgendwie durchgedrückt. Da werden auch schonmal auf allgmeinen Druck hin Noten fürs Zeugnis geschönt.
Und unter diesen Umständen können wir es auch gleich lassen. Sowohl die individuelle Förderung als auch generell Notenverteilung. Dann wird das System nämlich ad absurdum geführt.
Ich gehe mit dem Blogger hier völlig übereins, dass in einigen Fällen Förderung und Fordern in ausgewogenem Maße GOLD sein kann für einen Schüler.
Einige müssen gefördert werden. Andere „nur“ gefordert. Und wenn mit einem Attest gewunken wird, statt dass man einfach mal ein vernünftiges Gespräch von Eltern zu Kind führt… ist das recht traurig. (Aber auch hier gilt: Natürlich ist ein Attest nicht in allen Fällen unberechtigt!)
Eine Anmerkung zum Schluss:
Spitzer täte besser daran, rein in der Hirnforschung zu bleiben und sich nicht ständig in Pädagogik, Philosophie und anderen Themen einzumischen. Beiträge leisten gerne, aber sein Auftreten zu solchen Themen lässt sowohl praxisnahes fachpädagogisches Wissen vermissen als auch gute Kinderstube.
—-
TL;DR: Der Blogger hat Recht; Fördern und Fordern in ausgewogenem Maße scheinen mir ideal; Spitzer übertreibt’s.
Ich bitte um Entschuldigung für den ellenlangen Kommentar.
Danke – so ganz daneben ist meine Sicht wohl nicht. 🙂
Ich lass einfach mal unkommentiert das hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Dunning-Kruger-Effekt
…der ‚Dunning_Kruger_Effekt, sehr schön. Wieder was gelernt )
Pingback: ein bisschen Statistik « …ein Halbtagsblog…
Hallo Herr Klinge,
die Frage ist für mich sollen wir /sollen wir nicht fordern. Die Frage ist, sind wir es den Kindern nicht schuldig?
Nur wenn man in dem Beruf arbeitet, erlebt man, wie Menschen über die jahrelang gesagt wird, sie würden dieses oder jenes „eben nicht können“ durch Zufall in die Situation geraten, dass es ihnen selber sehr wichtig ist genau dieses Unvermögen zu überwinden und plötzlich klappt es.
Ich beispielsweise saß vor wenigen Tagen mit einem Mädchen mit offiziell getesteter Dyskalkulie und ofiziell getesteter Konzentrationsschwäche zusammen, dass wochenlang sich weder konzentrieren noch rechnen konnte. Nun hat das Kind eine 6 geschrieben und fürchtet die Schule und ihre Freundinnnen verlassen zu müssen. Die Eltern haben sich bisher vor dem juristischen Streit über Nachteilsausgleich gescheut.
Nun kann sich das Mädchen plötzlich 60 Minuten konzentrieren. Und erreicht spontan ein mittleres Niveau in den gestellten Aufgaben, das ungefähr einer stabilen 4 entspricht und das Ziel der Nachhilfe ist.
Sollte das Mädchen herausbekommen, dass sie rein rechnerisch aktuell auf 4,35 steht (was mit den Halbjahresinformationen der Fall sein wird) erwarte ich wieder größere Konzentrationsstörungen und spontane Toilettengänge um dort heimlich in whatsapp zu schauen.
Klar habe ich Mitleid mit dem Kind. Es hat sich weder Dyskalkulie noch Konzentrationsstörungen herausgesucht. Aber sie bekommt viel teure Hilfe und ich wünsche mir, dass sie wirklich immer all ihre Kräfte nutzt um aus ihrem Schicksal das Beste zu machen und sich nicht weiter hängen lässt.