Bei einem tragischen Unglück an einer Förderschule in unserer Gegend ist diese Woche ein Kind lebensgefährlich verletzt worden. Der neunjährige Junge wurde leblos im Schwimmbecken der Schule gefunden – vermutlich ist er durch einen nicht abgeschlossenen Nebeneingang während der Pause ins Gebäude gelangt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, ob ein Fall von Aufsichtspflichtverletzung vorliegt, aber so etwas geschieht immer, wenn an einer Schule Unfälle geschehen.
Ich möchte an dieser Stelle nicht über mögliche Ursachen schwätzen oder über diese Tragödie als solches schreiben. Solche Unfälle sind schrecklich und mein Mitgefühl gilt der Familie, den Mitschülern und den Lehrern.
Dieses Ereignis wirft jedoch ein Schlaglicht auf einen ganz besonders heiklen Punkt der Inklusion: Die Aufsichtspflicht.
An der genannten Förderschule sind etwa 120 Schüler mit geistigen Behinderungen angemeldet. Pro Klasse, die etwa 12 Schüler umfasst, gibt es zwei bis drei Lehrer – es herrscht also eine sehr intensive Betreuung, die nicht mit einer normalen Schule vergleichbar ist.
Wenn ich über Ausflüge schreibe, erwähne ich immer wieder, dass alles sehr diszipliniert abläuft – zum Vergleich: Wir sind zwei Lehrer auf dreißig Kinder. Und in jeder Klasse gibt es ein paar Kasper, die nicht in Reih und Glied laufen wollen – auch in meiner. Es besteht immer die latente Gefahr, dass bei so einem Ausflug einer johlend davonrennt und auf die Straße vor ein Auto läuft.
Inklusion in der Schule bedeutet nun nicht nur, dass ich zwei brave Mädchen mit Glasknochen habe, die zudem über Inklusionshelfer verfügen – sondern es wird zukünftig auch bedeuten, dass Kinder mit geistigen Behinderungen, bspw. autistische Kinder in einer Klasse mitmarschieren. Kinder, die nicht einschätzen können, wie gefährlich eine Straße, ein Bahnhof, ein Schwimmbad ist.
Als wir im Sommer ins Odysseum nach Köln gefahren sind, habe ich am Bahnhof Blut und Wasser geschwitzt: Die Mädchen beginnen irgendwann ‘Fangen’ zu spielen (das beginnt ganz sanft mit einer Berührung, dann rennt irgendwer weg und andere hinterher…) und immer gibt es irgendwann drei Jungs, die sich gegenseitig lustig herumschubsen.
Schon in einer Klasse mit normal entwickelten Kindern ist so ein Ausflug megaanstrengend. Der Gedanke, ich hätte auch Schüler dabei, die u.U. frustriert wegrennen (und im Zweifel über die Gleise) wenn sie geärgert werden oder die andere Schüler wütend zurückschubsen (und im Zweifel auf die Straße), weil sie das Gefahrenpotential nicht erkennen, lässt mich schaudern.
Wie soll ich als Lehrer da noch echte Aufsicht gewährleisten können?
“Verzeihung, aber ich nehme keine Kinder mit Behinderung oder Verhaltensstörung auf eine Klassenfahrt mit.”
Die Reaktionen wären klar.
Bei mir in der Grundschule (War auch auf einer Förderschule, da der Verdacht im Raum stand, dass ich das Asperger Syndrom hätte) waren wir 48 Kinder auf 4 Klassen. Pro Klasse 4 Lehrer (unseren Rektor mitgezählt, er war einer unserer 4 Klassenlehrer) und einen Hausmeister (Der auch Lehrer war, aber keinen Job als solchen bekommen hat) Irgendwann als ich in der 2. Klasse war, da ist ein Schulkamerad auf dem Weg nach hause von einer Straßenbahn erfasst und getötet worden. Es wurde zum Glück erwiesen, dass die Schule keine Schuld trug. Aber unser Rektor ist nie über den tot hinweg gekommen.
🙁
Die Aufsichtspflicht, ein ewiges Dilemma.
Ich habe unzählige Schulausflüge und Klassenfahrten begleitet. Obwohl ich mir (bzw. die Schule) von den Eltern unterschreiben lasse, dass sich die Kinder ab einem bestimmten Alter in Kleingruppen unterwegs bewegen dürfen, habe ich immer ein mulmiges Gefühl.
Man kann die Augen nicht überall haben und man ist darauf angewiesen, dass sich die Kinder vernünftig verhalten. Aber wie das nun einmal so ist: Kinder haben nicht den Verkehrssinn wie Erwachsene. Dazu kommen auch immer mal wieder Kinder, die selbst die Grundlagen nicht gelernt haben.
Auf meiner letzten Klassenfahrt kam dann nachts der schreckliche Anruf: Ich solle eine Schülerin (ü18) aus dem Krankenhaus holen. So eine Angst hatte ich bis dato noch nie.
Wie das dann mal mit Inklusionskindern aussehen mag, die ggf. keine Inklusionshelfer haben, will ich mir gar nicht vorstellen. Mir fehlen da einfach vernünftige Weiterbildungen.
Geschubse und Fangenspielen am Bahnsteig kann man ja immerhin noch relativ schnell unterbinden und würde ich persönlich,auch auf die Gefahr als Spielverderber zu gelten, auch gleich in den Anfängen unterbinden, weil ja gerade die jüngeren Schüler dazu neigen, sich bei sowas aufzuschaukeln. Ansonsten würde ich sagen, dass um der eigenen Entlastung willen gilt, und das hat man ja auch relativ schnell raus, wer dafür prädestiniert ist und wer nicht , dass die Schüler, die Eigenverantwortung tragen können, d.h. sich in aller Regel nicht Gefahr begeben, sich in der Gruppe am weitentferntesten Punkt von der aufsichtführenden Person aufhalten dürfen und die anderen sich eben in deren unmittelbarer Nähe zur Verfügung halten müssen. Und so würde ich das auch kommunizieren: Wer sich benehmen kann, bekommt Privilegien. Das kann man denke ich, auch bei Inklusionskindern tun, ohne dass irgendwer unterstellt, dass es diskriminierend sei, gerade weil man sie ja so behandeln soll, wie die Kinder ohne Handicap. Und von den „gesunden“ Kindern schlagen ja auch immer welche über die Stränge. Und wer ganz und gar negativ auffällt, muss eben den nächsten Ausflug in der Parallelklasse verbringen, bevor er erneut die Chance erhält.
Klar wird das unterbunden – aber das ist halt eine Dauerbeschäftigung: Sobald ich hier für Ruhe sorge, geht’s dahinten wieder los. Nachmittags nach vollem Programm und bei langweiligem Warten auf den Zug ist das auch kein Wunder.
Könnte man dann nicht sofern Zeit, Wetter und Ortskunde es zulassen, bevor man wieder zum Zug pilgert, einen Zwischenstopp in nem Park oder so einlegen und die rennen nochmal ne Runde um den Ententeich um die Wette? Dann wäre der Bewegungsdrang schonmal abgehakt. Und sofern keiner in den Teich fällt geht das ja auch mit der Aufsicht.
Sicher – aber in der Praxis ist man ja lieber zehn Minuten früher am Bahnhof, als eine Minute zu spät. Und zehn Minuten warten sind für Kinder sehr, sehr lang 🙂
Snickers für alle!- Ach nee, dann hat bestimmt einer ne Erdnussallergie, von der keiner was wusste, und dann hat man auch wieder das große Los gezogen 😀
Das ist ja auch sowas, Süßigkeiten mitbringen für Schüler: Da kann man beim Einkaufen auch seinen Meister machen 😀
War selbst auf einer Schule mit – damals hieß das noch Integration – zum Teil recht schwer körperlich Behinderten – wie es damals auch noch hieß. Studienfahrt in der Oberstufe war ein echtes Problem, weil die Angebote, die es für Schüler mit überbreiten Rollstühlen gab, so teuer waren, das andere Schüler sich das dann auch nicht mehr leisten wollten. Es gab richtig Streit um die Frage, was ist jetzt gerecht.
Unsere Lösung damals: eine Fahrt innerhalb Deutschlands, behindertengerecht und weil Innland preislich machbar, eine andere ins Ausland, wie es heute oft normal ist. Die zweite konnte nicht für die Behinderten angeboten werden, weil ihre Sicherheit nicht gewährleistet war. Also fuhren wir getrennt. Das war sicher nicht die optimale Lösung – aber etwas anderes haben wir damals nicht zustande gebracht. Schade.
viele Grüße aus der Provinz
Das wird irgendwann auch auf mich zukommen: was aber, wenn man nur zwei, drei, fünf Rollstuhl-Fahrer hat? Eine Klassenfahrt für drei Leute?
Ganz einfache und pragmatische Lösung:
Es gibt keine Klassenfahrten und keine Ausflüge mehr.
Ich weiß, das ist zynisch zum einen, ungerecht zum anderen und eine Lösung ist es eigentlich auch nicht.
Am Ende wird es vermutlich bei vielen Kollegen genau darauf hinauslaufen.
Und das wäre ein herber Verlust: Nicht jedes Kind hat die Möglichkeit, je wieder Segeln zu gehen oder nach Rom zu reisen… :-/
Ich finde Schullandheim immer extrem anstrengend, weil man eine ganze Woche für das Wohlergehen der Kinder verantwortlich ist. Wenn die Woche vorbei und das letzte Kind an die Mutter übergeben ist, merke ich erst, wie angespannt ich in den letzten Tagen war und falle dann – sobald zuhause – sofort ins Bett. Man mag sich gar nicht ausdenken, was in den Tagen alles schief gehen KÖNNTE – zum Glück hat sich bis auf ein paar Kabbeleien und Wespenstiche noch nie was Schlimmeres ereignet.
Eine Frage hätte ich aber schon, Jan: Du betonst immer, dass für dich der Ablauf eines solchen Ereignisses super diszipliniert sein muss. Hast du irgendwelche Geheimtipps, um eine gewisse Ordnung in die Leute reinzubringen? Sowas sind echt so Dinge, die man im Ref irgendwie nie lernt, weil mein keine eigene Klasse haben darf, und wenn das Ref vorbei ist, erwartet man von einem Lehrer einfach, dass so etwas problemlos klappt…
Geheimtipps klingt jetzt so besonders – aber ich glaube, ich bin einfach nur ein durchschnittlich strenger Lehrer.
Ich sage immer platt, dass Kindererziehung genauso ist wie Hundeerziehung:
Ganz viel knuddeln und liebhaben und loben – aber auch ganz klare Grenzen setzen und sehr deutlich formulieren, was geht und was nicht. Meine Schüler dürfen – innerhalb der von mir gesteckten Grenzen – eine ganze Menge Freiheiten genießen. Aber treten sie auch nur mit einer Zehenspitze darüber, gibt es Ärger.
Ich bin in meinen Erwartungen (und meinen
Strafenerzieherischen Maßnahmen) sehr transparent – die Schüler verstehen ganz genau, dass sie bei mir bspw. die (laaaaange) Sicherheitsbelehrung abschreiben müssen, wenn sie im Technikunterricht Unsinn treiben. Das kommt dann genau einmal im Jahr vor.Das wiederum hat zur Folge, dass ich mich – wenn es wirklich drauf ankommt – hundertprozentig auf meine Schüler verlassen kann. Und ich fahre sehr entspannt damit.
🙂 Wer Hunde erziehen kann, bekommt das mit den Kindern auch hin. 🙂
Hab‘ ich mal in einem Hundebuch gelesen.
Im Referendariat war ich – zum Glück nur als Begleiterin – mit einer HS 9 im Landheim. Eines Abends (so gegen 22 Uhr) war ein Schüler weg. Er war immer sehr in sich gekehrt und nun spurlos verschwunden. Die Gebäude lagen an einem See und wir haben alles abgesucht, sind den Weg zum Bahnhof, zum Supermarkt, zum Park alles abgelaufen – nichts. Auf dem Rückweg zur Unterkunft waren wir uns einig, dass wir die Polizei alarmieren müssen. Und da haben wir ihn schnarchend im Busch mit einer leeren Flasche Rotwein gefunden. Ich hab vor Freude geheult, so erleichtert war ich. Wie muss es da in dem Klassenlehrer ausgesehen haben???!
In der Jugendarbeit hat man ja ein ähnliches Problem: Man ist mit Jugendgruppen oder Ferienlagern in teils aufregenden Gegenden unterwegs und oft selbst erst irgendwas zwischen 16 und 30. In einem Kurs habe ich vor allerdings auch schon weider 15 Jahren gelernt:
Aufsichtspflicht heißt nicht Kontrolle um jeden Preis, jederzeit und überall. Es heißt auf Gefahren hinweisen, Grenzen setzen und kontrollieren und im Überschreitungsfall auch Konsequenzen ziehen. Damit wäre man auf der sehr sicheren Seite – ob es stimmt oder bei Lehrern anders ist – ich weiß es nicht. Ich findeaber es klingt vernünftig.
Und trotzdem: Wenn etwas passiert wird geschaut, wer hat da wo geschlafen. Und verantwortlich sind die Lehrer bzw. Betreuer.