Vorbemerkung: Dieser Artikel dient mir selbst zur Strukturierung meiner Gedanken und mag dem ein oder anderen einen Einblick darin geben, wie Unterricht geplant wird.
Nicht, dass ich die Sommerferien nicht genießen würde.
Die vergangenen Tage habe ich nichts anderes gemacht, als in der Sonne zu braten und das Leben zu genießen. Ich merke dann nach kurzer Zeit der Tatenlosigkeit, wie meine Gedanken anfangen zu rotieren. Ich grüble, denke, probiere, lese.
Im Augenblick steht mein Physikunterricht im Zentrum meines Denkens:
Wie kann mein Unterricht so großartig werden, dass die Schüler keine Stunde verpassen wollen?
In dieser Phase (ich habe ja noch einige Wochen Zeit, bis es wieder losgeht) sammle und sortiere ich das, was ich schon weiß, erlebt habe oder mich an irgendeiner Stelle beeindruckt hat.
Der Reihe nach.
Martin Wagenschein
Wagenschein war ein deutscher Physiker und Pädagoge, der sich stark im Bereich der Fachdidaktik engagierte. Er entwickelte das genetische Lernen weiter und kritisierte am normalen Unterricht vier Punkte, die er “Verdunkelndes Wissen” nannte:
- Leichte Erkenntnisse werden durch unverstandene Regeln verdeckt (Im Osten geht die Sonne auf, im Norden (oder Süden?) nimmt sie ihren Lauf…?!)
- Künstliche Apparate aus dem Physikschrank lenken von den freien Naturphänomenen ab.
- anschauliche Modelle vermitteln eine falsche Theorie des Unanschaulichen, bspw. das Atommodell
- Fachsprache verfremdet, was sie aussagen will.1
Bei aller Kritik an Wagenschein ist sein Ansatz zu genetischem Lernen fantastisch: Dinge müssen richtig verstanden und nicht blind auswendig gelernt werden. Konkretes Beispiel: Meine Wahrnehmung sagt mir, dass die Sonne (!) sich um die Erde dreht. Die Sonne “geht auf”. Wie kann man sauber beweisen, dass dem nicht so ist? Und zwar ohne die genannten Apparaturen (die doch wieder nur irgendetwas behaupten) und ohne Fachsprache, die Fachwissen vortäuschen, aber kein echtes Verstehen vermitteln kann.
Martin Kramer
Kramer ist Theaterpädagoge und Lehrer in Tübingen. Seine Bücher Physik als Abenteuer empfehle ich wärmstens. Sein Ansatz: Was ich erlebe, brauche ich nicht zu lernen. Er arbeitet viel mit Darstellen und Gestalten, nutzt Kuscheltiere und Schüler für anschauliche Modelle. Seine Arbeit empfinde ich gleichermaßen als brillant und herausfordernd – da bei uns Physik nur in 7 und 10 unterrichtet wird, ist es aber schwer, die Schüler richtig zu packen. Bei ihm würde ich gerne hospitieren.
Christian Spannagel
Spannagel war mein Professor in Ludwigsburg, mittlerweile lehrt er in Heidelberg. Bei ihm ist mir der flipped classroom zum ersten Mal begegnet: Seine Vorlesung kann soll man sich auf Youtube ansehen – in der Uni selbst werden dann Fragen besprochen und Gelerntes angewandt. Eine Umsetzung an Schulen findet hier und da statt. Auch meine Schüler erzählen mir, dass sie sich dieses und jenes in Youtube-Videos noch einmal erklären haben lassen. Finde ich grundsätzlich spannend – aber meinen eigenen Unterricht in Youtube zu stellen, kann ich mir aus verschiedenen Gründen nicht vorstellen. Trotzdem ist der Gedanke, Lernen auszulagern, prinzipiell aufregend.
Außerdem denke ich an meine eigene Lerntheke Filme im Physikunterricht – das war schon ziemlich cool. Allerdings sind diese Beispiele nur nützlich, wenn man die Gesetze schon kennt. Zum verstehen (warum ist Kraft das Produkt aus Masse und Beschleunigung?) taugt sie nichts. Spannend war überdies jener Physikkurs, der ein rein digitales Heft führen sollte. Auch diesen Schülern hat das durchaus Spaß gemacht.
Diese Aspekte (und weitere) gehen mir durch den Kopf. Hier gefällt mir dieser Punkt, dort jener. Und aus dieser Suppe von Inspirationen will ich nun irgendwie einen neuen Weg finden, Physik in Klasse 10 zu vermitteln. Mal schauen, wo das endet.
1: Ironie: Wagenschein schreibt selbst in einer sehr künstlichen, aufgebauschten Sprache und richtet sich an ein sehr bildungsnahes Publikum.
ich komm ja (neben Mathe) aus dem Chemie-Bereich. Gerade beim Unterrichten/lehren könnte vielleicht die Simulation von Aktivitäten etwas Beitragen zum Verständnis:
– Molecular-Workbench bietet Simulationen zu submolekularen Phänomenen (siehe auch http://wikis.zum.de/chemie-digital/Molecular_Workbench). Da gibt es zum Beispiel eine Simulation zum Experiment von Rutherford, mit dem die Schüler ohne mein Einwirken die Begriffe Kern und Hülle selber genannt haben, als wir das Simulations-Experiment besprochen haben (http://wikis.zum.de/chemie-digital/Simulationsexperiment_zum_Rutherfordschen_Streuversuch_mit_MW) oder welche zur Stromleitfähigkeit (http://wikis.zum.de/chemie-digital/Kategorie:Leitf%C3%A4higkeit gif wurden von MW aufgenommen).
– Algodoo (http://www.algodoo.com/) ermöglicht Experimente zu pyhsikalischen Aspekten, auch mit der Aufzeichnung von Bewegungen und Kräften als Diagramme. Gerade die Möglichkeiten der Optik finde ich voll cool: Bau dir deine Brille, die die Fehlsichtigkeit korrigiert oder so etwas.
Danke für die Hinweise!
Ersteinmal: Vielen Vielen Dank für diesen Beitrag! Jetzt, wo sich mein erstes halbes Jahr in der praxis dem Ende neigt (und sich die Anfangsprobleme aufgelöst haben), stelle ich mir immer häufiger die Frage, wie Physikunterricht spannender werden kann.
Wagenschein ist natürlich zur Zeit ein wichtiger Didaktiker mit einem zweifelsohne gutem Ansatz. Insbesondere die „Verfremdung“ der Inhalte durch scheinbar komplexe Messinstrumente waren mir immer ein Dorn im Auge. Aber dort kann man sicherlich gut mit Alltagsgegenständen oder modernen Mitteln (Smartphones) gegenarbeiten.
Eine Sache finde ich aber wichtig und von Wagenschein falsch verstanden. Modelle und Fachbregiffe sind bei ihm eine Verfremdung des Inhalts. Oftmals stimmt das, aaaaaber: Die Frage ist auch, was die SuS über das Vorgehen der Wissenschaft wissen. Wenn ein Schüler ein Modell vorgesetzt bekommt generiert das Fehlvorstellungen. Weiß man nun aber was ein Modell ist und das es die Realität nie abbildet, hilft es zu verstehen. (Wie will man Elektrostatik verstehen, ohne das Atommodell zu nutzen?) Das fällt nunmal in die didaktische Reduktion.
Ich glaube, dass es wichtig ist nah an der Lebenswelt der SuS anzusetzen. Und da muss ich dich Loben, denn deine Lerntheke schafft es den Nutzen einer physikalsichen Gesetzes für die Lebenswelt (und wenn es „nur“ ein Film ist) sichtbar zu machen.
Ich bin ein großer Fan vom kontextorientierten Unterricht. Die Beispiele, die Unterricht für die Schüler interessant machen können, werden hier nicht mehr als beispiele für Gesetze genommen, sondern sind das eigentliche Lernthema. Die physikalischen Hintergründe sind nur noch dafür da Zusammenhänge zu erklären und zu beschreiben, sodass die scheinbar nebenher mitgenommen werden. Das Problem ist dabei, das ein solcher Kontext interessant sein muss und auf eine gesamte Einheit übertragen werden muss. Dank Kerncurriculum nur schwer umzusetze, da oftmals mehrere Bereiche angeschnitten werden.
Zu guter letzt wäre es eine schöne Vorstellung die SuS zu einem selbstbestimmten Lernen zu begleiten, bei denen Themen durch die Schüler und nur die Umsetzung durch die LK organsiert werden.
Aber die Idelvorstellungen sind Dank Mangel und Schulpolitik in naher Zukunft leider undenkbar.
Du hast mit der Kritik an Wagenschein natürlich recht – ich reduziere ihn (didaktisch) auf das genetische Lernen und das gefällt mir.
Was die Schulpolitik betrifft: So lange es noch keine Zentralen Abschlussprüfungen in Physik gibt, ist man da in der Sek1 ja noch einigermaßen frei…
Ich produziere jetzt mal Neid: Mitte der 70er Jahre habe ich noch an Seminaren bei Wagenschein teilgenommen. Er wohl schon über 80 und machte das quasi als Hobby (TU Darmstadt).
Unvergessen seine Stunden zur Druckverteilung in Flüssigkeiten.
Da kommt wirklich Neid auf 😀
Ich bin zwar Lehrerin für Gesundheit und Pflege an einer Fachschule für Altenpflege, integriert in eine Berufsbildende Schule, besuche aber trotzdem regelmäßig deinen Blog (ich hoffe, ich darf „du“ sagen?), weil ich ihn fantastisch und sehr inspirierend finde.
Zum heutigen Beitrag kann ich nur sagen: danke. Wer macht sich nicht Gedanken über seine Stunden, wie sie ankommen oder wie man es erreichen könnte, dass sie überhaupt oder besser ankommen bei unserer Zielgruppe. Auch, wenn ich ausschließlich mit Erwachsenen arbeite, sind es letztendlich nur Schüler wie alle anderen Altersklassen auch und man muss auch sie versuchen, hinter dem Ofen vorzulocken.
Auch für die Bereiche Gesundheit und Pflege gibt es „Wagenscheins“ und „Kramers“, auf jeden Fall lassen sich die im Artikel dargestellten Anmerkungen einwandfrei auch auf meinen Unterricht übertragen. Ein gutes Beispiel, welches mir spontan beim Lesen einfiel: Wie bringe ich meinen Schülern anschaulich und nachvollziehbar die Vorgänge des großen und des kleinen Blutkreislaufs bei? Auch, wenn diese Vorgänge in jedem unserer Körper stattfinden, muss man nicht meinen, dass diese komplexen und ununterbrochenen Aktionen leicht zu verstehen sind. Ich habe den Versuch gestartet, diesen Vorgang mit dem banalsten zu verbinden: dem Essen. Das versteht jeder, essen – verdauen – ausscheiden. Also beginne ich das Herz mit der Schulmensa oder Cafeteria zu vergleichen (habe eine super powerpoint dazu entwickelt) und schicke ein Männlein mit einem Sandwich durch das Herz, die Blutgefäße, die Organe, wieder durch die Blutgefäße, wieder durch das Herz bis in die Lunge und zurück und lasse das Männlein an den einzelnen Stationen ins Sandwich beißen – gute Dinge an die Organe abgeben, lasse das Männlein auf die Toilette gehen, die Müllabfuhr kommt und nimmt den Müll mit usw. Und was soll ich sagen? Dieses anschauliche Modell funktioniert so gut, dass mittlerweile ehemalige Schüler, die vor 10 Jahre bei mir in der schulischen Ausbildung waren, sich heute noch daran zurück erinnern und mir schreiben, dass Sie nachfolgenden Auszubildenden es genauso erklären, wie sie es bei mir gelernt haben – ohne Schulbuch.
So was macht mich stolz und lehrt mich selbst, auch die unverständlichsten Dinge sind lehrbar, man muss nur einen kreativen Weg finden, der nicht immer über das Schulbuch führt. So ist Anschaulichkeit mit einfachsten Mitteln mein Weg geworden, Schüler zu fangen und sie begierig zu machen, mehr wissen zu wollen.
Dein Kopfzerbrechen in der freien Zeit ist mir also durchaus verständlich und zeigt mir, du musst ein guter Lehrer sein…
Ich habe mich mal mit der Notengebung beschäftigt. Wenn jemand Lust hat, kann er mal meinen neuesten Beitrag lesen und kommentieren. Würde mich sehr freuen.
paulasschulgedanken.wordpress.com
Pingback: Mein neues Physik-Projekt (…ist großartig!) - ...ein Halbtagsblog...
Ich als (noch)Nicht-Lehrer kann mir zwar gut vorstellen, warum das flipped-classroom-Konzept deutlich näher an den SuS orientiert ist als „traditioneller“ oder gar Frontalunterricht, insbesondere nachdem ich Herrn Spannagels Vorträge zu diesem Thema gesehen habe. Ich glaube jedoch, dass die hohe Eigeninitiative, die vorausgesetzt wird, häufig an Schulen nicht umsetzbar ist. Besonders an Gymnasien ist es doch oft so, dass man als Schüler/in „mit dem Strom mitschwimmt“, und nur mit minimalem Aufwand zum Abitur kommen möchte. An einer Gesamtschule stelle ich mir das schon einfacher vor, insbesondere, da der erreichte Abschluss direkt von der eigenen Leistung abhängt – wer Abitur möchte, muss auch was dafür leisten.
Was ist deine Meinung dazu? Aus welchen Gründen kommt es für dich nicht infrage, deine Stunden als Video online zu stellen?
Nun, gerade Gymnasialkinder sind idR deutlich leistungsstärker als Gesamtschulkinder, die manchmal auch ganz andere Sorgen im Leben haben, die sie vom Lernen abhalten. Das Leistungsgefälle ist dort deutlich größer.