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Fachkräftemangel systemisch bekämpfen

An unserem zweiten Tag in Liechtenstein stand die enge Verzahnung der Realschule Vaduz mit der heimischen Industrie auf dem Schirm. Wie und warum und wozu gibt es diese engen Kooperationen zwischen Schulsystem und Wirtschaft und widerspricht das nicht dem Gedanken freier Bildung?

Nachdem wir gestern einen Einblick in das deutsche Schulsystem (mit seinen drölfzig Varianten) im allgemeinen und unserer Schule mit seinen Lernbüros im speziellen geliefert hatten, war ein wesentlicher Grund unseres Besuches ein anderer: Ebenso wie in Deutschland leidet die Industrie unter einem wahnsinnigen Fachkräftemangel. Auf viele Ausbildungsplätze gibt es nur wenige Bewerber und die haben zuweilen naive Vorstellung der Berufswelt.

Der Übergang von Schule zu Beruf gelingt nicht mehr.

Auf Twitter habe ich diese Diskussion am Rande verfolgt und eine sehr eingeschränkte Sicht gewonnen. Ein Argument konnte ich jedoch nachvollziehen: Wenn Ausbildung und später auch Job über Jahre hinweg mies bezahlt wurden („Oh, machen sie doch ein Volontariat bei uns – wir bezahlen mit Erfahrung und Team-Spirit!“), haben die Leute verständlicherweise keine Lust mehr darauf.
In der Schule erlebe ich einen extremen Gesellschaftswandel in kürzester Zeit: Digitalisierung, Inklusion, Integration bei gleichzeitig gestiegenen Anforderungen an die Flexibilität der Kinder: Im Unterricht wird diskutiert, modelliert, Inhalte transferiert mit und ohne Werkzeugen. Der Beispiele wären kein Ende. Und Schule versucht sich anzupassen, zu verändern. Zwar in einem Tempo, dass der Katholischen Kirche Konkurrenz macht, aber die Änderungen sind nicht zu übersehen und auch das Lehramtsstudium heute ist nicht mehr das von vor zehn Jahren.

Umgekehrt erlebe ich die Industrie als deutlich weniger flexibel: Aufgabe der Schule ist, ihnen die Kinder fertig nach der zehnten Klasse vor die Tür zu setzen. Seit Jahren wird zwar gestöhnt, was die Azubis alles nicht mehr können, aber mehr passiert auch nicht. Veränderung, Bewegung? Hm. Junge Menschen überlegen sich sehr genau, ob sie ‚Koch‘ werden wollen, wenn das bedeutet, man wird drei Jahre Lang angebrüllt und wie ein Leibeigener behandelt und an besonders schlechten Tagen wird einem auch mal eine Pfanne an den Kopf geworfen. „Jo, dann such dir einen anderen Dummen.“

In Liechtenstein haben Industrie und Schulsystem auf den Fachkräftemangel reagiert.

Eine Kooperation von Industrie und Schule assoziiere ich zuallererst mit Unterrichtsmaterial, das bestimmte Firmen erstellen. Dein buntes Infoheft für die Schule, das mit Bildern und Illustrationen über Energie und Atomkraft informiert – und vom einem großen Atomstrom-Hersteller produziert wird. Wie neutral kann das sein? Arbeitsblätter von McDonalds?
Auf solcherlei haben wir (zurecht) einen kritischen Blick und ich erwähne das nur im Vorfeld, weil meine vorurteilsbehafteten Bilder im Kopf nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun haben, was wir an unserem zweiten Tag besichtigen durften.

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An der Realschule ist der Projektunterricht eine ganz wesentliche Säule der Schule. In verschiedenen Fächern durchlaufen die Kinder eine komplette Projektplanung von Ideenfindung über Planung, Datenerhebung (wer würde so etwas kaufen und wie viel?), Prototyp, Finanzierung, Verkauf und Bewertung. Ihre Projekte müssen sie vor einem Gremium verteidigen und erhalten – bei überzeugender Idee – die Möglichkeit der Produktion und eine Anschubfinanzierung in Höhe von einigen Tausend Euro. Und an dieser Stelle greift die Industrie: Die Kinder haben die Möglichkeit, in die Firmen zu gehen und dort an den Maschinen zu arbeiten. Schon mal in Berufe reinzublicken.
Und plötzlich geht es nicht mehr um ein fiktives Projekt oder ein Referat, wo im schlimmsten Fall ein Rüffel droht. Plötzlich geht es um wirklich Geld. Plötzlich muss man wirklich 80 selbstproduzierte Eieruhren verkaufen. (Ich kann den gesamten Prozess hier nur skizzieren.)

Die Projekte sind praktisch völlig frei und orientieren sich in Anforderungen am richtigen Leben – also dem, was auch die Ausbildungsberufe später erfordern. Wir haben an dem Tag Dutzende Beispiele gesehen und erlebt, die aufzuschreiben hier jeden Rahmen sprengen würden.

Morgens: Schulbesuch

Den Vormittag über haben wir bei Kolleg*innen hospitiert und einen Einblick in den konkreten Schulalltag erhalten. Ich liebe es ja, meine Nase in andere Schulen zu stecken. Der Geruch anderer Schulgebäude, das Geräusch der Schuhe auf dem Boden (alle Schüler tragen hier Hausschuhe, was der Atmosphäre ein ganz ungewohnten Anstrich verlieh).

Mittags: Firmenbesichtigung bei HILTI

Fachkräftemangel systemisch bekämpfen 2Anschließend sind wir zur Firma HILTI gefahren. Die kannte ich vor allem als Hersteller professioneller Bohrmaschinen. Neben einer Werksbesichtigung haben wir dort einen Einblick erhalten, wie die Ausbildung abläuft und – wirklich spannend, weil uns Lehrern oft eine gewisse Lebens-Ferne unterstellt wird: Einer der Kollegen der Realschule hat einmal einen ganzen Monat sämtliche Ausbildungsberufe im Schnelldurchlauf durchlaufen, das gesamte Kollegium ist einmal im Jahr dort. Nicht, um Bohrmaschinen und Flyer abzugreifen, sondern einen Einblick in die Anforderungen von Ausbildungsberufen zu erhalten. Wir haben lange darüber gesprochen, welches Interesse die Industrie hat, sich auf Schüler*innen zuzubewegen.

Das war ungemein spannend und wenn in Deutschland auch nicht alles davon übertragen werden kann, war dieser Einblick in „wie könnte es auch sein?“ ungemein inspirierend. Und wider Erwarten geht die Welt nicht unter. In Liechtenstein haben sich viele (alle?) Schulen enge Partner aus der Industrie gesucht und kooperieren, verzahnen sich mit ihnen. Die Kinder gewinnen durch lange Projekte tiefere Einblicke, als es über Tagespraktika möglich wäre.

Aber: „Tut uns leid. Aus Sicherheitsgründen können Kinder bei uns kein Praktikum machen“ ist eine Antwort, die ich oft lesen muss. Das ist hier anders. Hier werden Wege gefunden und es besteht auch ein Interesse, transparent zu sein, Einblicke zu gewähren. Das war wahnsinnig beeindruckend.
Es geht also nicht um Eingriffe in den Unterricht oder Arbeitsblätter „presented by“: Es geht um offene Türen und Kompetenzvermittlung.

Spannende Randnotiz: Der Ausbildungskoordinator bei HILTI erwähnte sinngemäß, dass die Azubis alle mit Handys und Tablets spielen könnten, aber „eine Excel-Datei irgendwo abzulegen und ein halbes Jahr später wiederzufinden – das wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Dateiablage?“ Das war fast wortgetreu der Grund, warum wir uns vor vier Jahren bei unserem Tablet-Konzept gegen Tablets und für Windows-Computer entschieden haben.

Nachmittags: Besichtigung des pepperMINT Forschungslabors

Nachmittags haben wir das pepperMINT besucht. Das ist ein Forschungslabor für Kinder, das sich Liechtenstein leistet.

 

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Sowohl Kindergartenkinder als auch Schüler*innen der gymnasialen Oberstufe sind hier immer wieder zu finden und forschen, bauen, experimentieren. Im Kleinen gibt es sowas auch bei uns – aber wenn ich mit einer Klasse an die Uni möchte, habe ich Wartezeiten, die völlig utopisch sind.

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Finanziert wird das Labor durch das Land – aber auch durch zahlreiche Unterstützer aus der Industrie. Denn die haben ein Interesse daran, dass die Kinder neugierig bleiben, mit Werkzeugen arbeiten können. An der Stelle muss man schlicht festhalten, dass Bildung in diesem Land einen anderen Stellenwert genießt, als in Deutschland.

Bis 16 Uhr haben wir Input um Input in uns aufgesaugt. Nachgefragt, diskutiert, überlegt, adaptiert. Worte vermögen das nur unzureichend wiedergeben. Es war schlicht unglaublich.

Abends: Kultur in Liechtenstein

Abends sind wir mit einigen Kollegen gemeinsam Essen gegangen. Das war schlicht wunderbar und ein ganz vergnüglicher Abschluss des Tages, der nur vom anschließenden Programm noch übertroffen werden sollte.

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Man ist ja immer Gefangener seines eigenen Horizonts. Mit Kindern, Job, Ehrenamt und zuletzt politischem Engagement (Bildungsministerium: Nimm dich in Acht. Ich bin unterwegs!) gibt es auch vieles, was ich verpasse. Jedes „Ja“ zu einer Sache ist auch ein „Nein“ zu einer anderen.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt abends in einem Pub war – als Nicht-Trinker ist das vielleicht auch nachvollziehbar. Jedenfalls haben wir uns abends in einem PubQuiz wiedergefunden. Ein unglaublich lustiges Format, das mir vielleicht irgendwo am Rande mal begegnet ist – aber ich habe noch nie an einem teilgenommen.

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Mit Peter Hilti, einer Kollegin der Realschule und meiner wunderbaren Co bildeten wir das Team „Golden Girls“ und schlugen uns beachtlich erbärmlich. Mein einzig nennenswerter Beitrag war die Information, das Old Shatterhand von Lex Barker gemimt wurde – und nicht einmal diese Info habe ich alleine hinbekommen. Aber wir haben Tränen gelacht und einen wirklich zauberhaften Abend beschlossen.

Ausblick

Heute reisen wir wieder ab. Mit vollen Köpfen und einer klaren Vision, wie eine Kooperation zwischen Schulen und Berufsleben unter idealen Bedingungen mit ausreichenden Mitteln aussehen könnte. Das ist wichtig – denn unsere Schule befindet sich nicht nur immer noch im Aufbau, sie unterliegt auch einem ständigen Wandel. Wir werden nie fertig sein, uns zu verändern um unseren Kindern immer wieder und immer wieder neu einen guten Start ins Leben zu ermöglichen.

Bevor es aber heimgeht, werden meine Co und ich noch zu Hause anrufen. Videokonferenz mit der heimischen 5. Klasse. Von einer Schule in Liechtenstein ins heimische Siegen. Unvorstellbar noch vor einigen Jahren.

Und wer weiß: Vielleicht gucken wir in einigen Jahren zurück und denken: Puh, diese Verzahnung von Berufswelt und Schule hätten wir uns damals auch nicht vorstellen können. Und vielleicht, nein: hoffentlich, fällt vielen Schülerinnen und Schülern der Übergang vom geschützten Bildungsraum Schule in das Berufsleben dann leichter.

Ein Gedanke zu „Fachkräftemangel systemisch bekämpfen“

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