Obwohl es manchmal unterzugehen scheint, bin ich auch immer noch begeisterter Klassenlehrer. Ich bin und bleibe Beziehungs-lehrer und das ist bei der eigenen Klasse oft am innigsten.
Seit den Ferien habe ich einen großen Smartscreen mit Android-Betriebssystem im Klassenraum hängen. Nach der ersten Instruktion („Alle Mann: Finger weg!“) habe ich mit den Kindern schnell über einen vertrauensvollen Umgang gesprochen. „Einfacher ist es, wenn grundsätzlich kein Schüler da ran darf – besser fänd ich, wenn ihr damit sinnvoll umgehen könntet.“ Neben dem lehrergesteuerten Einsatz im Unterricht (dazu an anderer Stelle mehr) hat sich inzwischen eingespielt, dass das erste Kind im Klassenraum morgens das Gerät anwirft und die Tagesschau-App startet. Während alle Mitschüler nach und nach ankommen, läuft vorne eine untertitelte Dia-Show über die Nachrichten des Tages. „Was bedeutet Diesel-Fahrverbot?“, hat mich Talin heute gefragt. Diese Info-Schnipsel sind nicht viel – aber ich bin zuversichtlich, dass ein langfristiger Effekt sichtbar werden wird. Theresa May erkennen mittlerweile alle und wissen auch, wer sie ist. Auch das ist Nutzung digitaler Werkzeuge, ist digitale Bildung. (Die Schülerinnen auf dem Foto sitzen da übrigens freiwillig im Lernzeitband und bearbeiten eine Mathematikaufgabe aus meiner Lerntheke).
Heute habe ich außerdem in den letzten beiden Stunden meine eigene Klasse vertreten dürfen. Zwei Stunden im Nachmittagsunterricht – das zieht sich manchmal.
„Wie wollen wir die Zeit gestalten?“, habe ich meine Klasse gefragt und mich darauf eingestellt, alles von „Pizza-bestellen“ über „Film gucken“ und „nach Hause gehen“ abschmettern zu müssen.
Statt dessen sinnvolle Vorschläge: „Die erste Stunde Lernzeit und danach etwas spielen?“
Das trifft auf breite Zustimmung und ich schließe mich der Klasse an. Was für wunderbare, vernünftige Kinder.
Für die Spielestunde habe ich mir im Vorfeld zwei erlebnispädagogische Spiele ausgedacht: Zum einen das „aldi“-Spiel.
Alle Kinder sitzen in einem Stuhlkreis – ein Kind steht in der Mitte. Es sagt etwas wie „Ich mag aldi Kinder, die gerne Pizza essen“. All jene, auf die das zutrifft, müssen sich schnell einen neuen Platz suchen. Wer am Ende keinen Stuhl findet, bleibt in der Mitte und bennent eine neue Gemeinsamkeit. Wichtig ist: Es werden nur positive Dinge genannt. Ein, zweimal muss ich einschreiten bei Sätzen wie „Ich mag all die, die den Jonathan mögen.“ Die Kinder denken sich nichts böses dabei – aber klar: Wie fühlt es sich an, wenn viele Kinder sitzen bleiben?
Im Anschluss daran „Alcatraz“.
Aus Tischen und Stühlen habe ich zwei Gefängnisse gebaut. Hochsicherheitstrakte. Einen für die Jungs, einen für die Mädchen. An einer Stelle ist die Mauer etwas niedrig und mit einem Klebeband markiert. Außerdem gibt es einen brüchigen Tunnel, durch den maximal drei Kinder durchkriechen können, bevor er zusammenkracht. Ziel natürlich: Der gemeinsame Ausbruch.
Dabei müssen die Jungen und Mädchen sich gegenseitig über den Tisch heben – und wehe, sie zerreißen das gespannte Krepp-Band! Dann geht es wieder von vorne los. Theatralisch male ich mir aus, wie wunderbar ein solcher Job als Gefängniswärter wäre und ergänze die Situation durch eine Lautstärke-Mess-App. Via Beamer misst mein Smartphone ununterbrochen den Lärm im Raum und die Regel heißt: Bei mehr als 80 Dezibel, wacht der Gefängniswärter auf und dann gibt es Ärger im Klassenraum.
Was wurde gelacht. Und gekeucht. Und leise gekichert. Immer wieder „psst“-Rufe. Dann die Erkenntnis: Wenn am Anfang drei Leute durch den Tunnel kriechen, kommt der letzte Mann nicht mehr aus dem Gefängnis. Also Neustart. Jungs gegen Mädchen. Mädchen gegen Jungs. Ein großer Spaß.
Ganz am Schluss, nach erfolgreichem Ausbruch, Auswertung im Stuhlkreis.
„Warum spiele ich mit euch wohl so ein Spiel?“, lautet meine Suggestiv-Frage. „Wir sollen üben, leise zu arbeiten!“, meint Sam. „Und konzentriert!“, ergänzt Tunja. „Wir sollen erkennen, dass wir als Team arbeiten müssen“, fügt Osra hinzu. „Zusammenhalt und so!“
Positiv wird erwähnt, dass manche zuerst Angst hatten, aber sich dann gegenseitig Mut zugesprochen wurde. Viele sind sichtbar stolz, dass sie das geschafft haben. Zufrieden lehne ich mich zurück, als Franz noch etwas einfällt. „Ein Glück, dass ich die Idee hatte, nicht alle direkt durch den Tunnel zu schicken!“
Den Bruchteil einer Sekunde herrscht Stille.
Dann: „Das war meine Idee, Alter!“ „Red doch nicht!“ „Spinnst du???“ „Ihr habt das doch von uns abgeguckt!“ „Ja, ja!“
Eine eifernde Diskussion darüber, wer nun die Idee hatte lässt das Dezibel-Meter an die Grenzen der Skala springen. Teamarbeit. Zusammenhalt. Ja, klar!
Was für furchtbare, unvernünftige Kinder!
Lieber Martin, das erste Spiel kenne ich unter „wohin der Wind weht“. Das zweite gar nicht. Wo finde ich die Anordnung der Tische und Stühle, damit der Tunnel so fragil ist? Das scheint mir wichtig. Hört sich sehr gut an. Gerade auch mit der Lautstärke App.welche nimmst du?
Herzliche Grüsse aus Berlin
Ach, viel einfacher: Die bekanntere Variante ist die eines großen Spinnennetzes, das man zwischen zwei Bäume hängt und wo die Kinder durchgetragen werden müssen. Alternativen funktionieren mit Gummibändern und Seilen. Ich habe im Klassenraum einfach aus Tischen und Stühlen eine Hürde gebaut. Der eingestürzte Tunnel war ein Stuhl, der nach dem dritten Kind umgekippt wurde. Und an einer Stelle konnten die Kinder sich über die Tische heben.
Auf dem Handy habe ich die App Schallmessung genutzt.
Wenn man die Schüler kennt, sind die Geschichten umso schöner zu lesen
Es wird eben nie langweilig in der Schule, wenn man aus der Kreativität der Schüler schöpft, ist es ein unglaublich inspirierender Beruf, wo man viel zu Lachen hat
Pingback: Mein Arbeitsplatz fürs Home Office: Schreibtisch, Monitore, Beleuchtung - Halbtagsblog