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‘Cybermobbing-Tage’ oder: ‘Vertrauen vs. Kontrolle’

2014-06-05 10.10.21Die letzten drei Tage waren an meiner Schule Cybermobbing-Projekttage. Die werden jedes Jahr für die sechsten Klassen durchgeführt. Dieses Mal gab es unter anderem ein Theaterstück (ich liebe Theater und freue mich, dass wir in den letzten Wochen gleich zweimal ein Stück ansehen durften), eine Polizistin war im Unterricht und es gab allerhand sonderpädagogische Einzelprojekte.

Den Schülern haben die Tage Spaß gemacht und sicher auch zu der ein oder anderen Erkenntnis geführt. Besonders zwei Punkte sind bei mir hängengeblieben: Zum einen gab es einen kleinen Fragebogen, bei dem die Schüler ankreuzen konnten, wie wohl sie sich in der Klasse fühlten, wie sehr sie die Klasse als “Team” empfänden und wie sehr man sich gegenseitig helfen würde und überdies wurde direkt gefragt, wer glaube, dass es in “eurer Klasse Mobbing gibt”.
Nach drei intensiven Projekttagen gingen sofort alle Hände hoch: Klar gibt es bei uns Mobbing! Eine Auswertung der Fragebögen brachte dann zustande, dass sich drei Viertel der Klasse immer oder sehr oft wohl fühlten. Die gleiche Menge empfindet die Klasse als immer oder sehr oft als gutes Team; ganz vereinzelt kreuzte jemand an, er würde sich nur manchmal wohl fühlen.
Ja, es gibt Mobbing. Ja, alle fühlen sich wohl. Ja, wir sind ein gutes Team.

Ein schönes Beispiel dafür, wie Umfragen ein beliebiges Ergebnis zutage bringen können. Klar sehen die Kinder überall Mobbing, wenn sie darauf gepolt werden. Und natürlich fühlen sich die meisten wohl, lege ich da schließlich einen Schwerpunkt meiner Arbeit drauf. Und fraglos gibt es einzelne, denen die Schule weniger Spaß macht – allein schon, weil sie sich in Mathematik oder Englisch oder Deutsch schwerer tun, als die anderen.

Der zweite Punkt, der mich irritierte, war der Besuch der Polizei. In intensiven, guten Gesprächen erzählten die Kinder freimütig, welche Horror-Kettenbriefe sie bei whatsapp bekämen und weiterleiteten und die Polizistin klärte auf, welche Konsequenzen dieses und jenes hätte.
Unzufrieden bin ich mit dem Gesprächsverlauf. Die Polizistin bat uns nämlich (“dies ist dann Aufgabe der Pädagogen”), den Eltern zu empfehlen, die Handys ihrer Kinder zu durchsuchen. Regelmäßig.

Das sehe ich anders.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass sich zweifellos auf den meisten Handys aller Schüler pornografische Bilder, Gewaltvideos und/oder anderes kritische Material befindet. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Aus Sicht der Polizistin sollten die Eltern die Geräte konfiszieren und durchsuchen, um die Kinder zu schützen.
Das halte ich für kurzsichtig.
Die Kinder sind klug genug, um Chatverläufe augenblicklich zu löschen – überdies kennen sie Möglichkeiten, Daten vor ihren Eltern zu verstecken (z.B. in der Dropbox). Es entstünde ein “Wettrüsten” zwischen Eltern und Kindern, bei dem die Eltern nur verlieren können. Die einzig sinnvolle Möglichkeit ist, den Schülern beizubringen, mit den Medien umzugehen und das Wissen, dass sie sich immer an ihre Eltern oder Lehrer wenden können.
Ich will nicht jeden Mist kontrollieren, den irgendwer auf dem Handy hat – aber jeder Schüler muss wissen, dass er, wenn es Ärger gibt, sich sofort an mich wenden kann. Egal ob es um Mobbing, Gewalt, Pornografie oder Kettenbriefe geht.

Es geht um Vertrauen.

Gehe ich grundsätzlich davon aus, dass jeder Bundesbürger Schüler vom Innenministerium Lehrer überwacht werden muss, oder stehe ich bereit, wenn man mich braucht?

Da bin ich wohl anderer Meinung als die Politik Polizei.

12 Gedanken zu „‘Cybermobbing-Tage’ oder: ‘Vertrauen vs. Kontrolle’“

  1. Ich bin der gleichen Meinung. Weder würde ich die Handys meiner Kinder durchsuchen noch als Lehrerin andere Eltern dazu anstiften.

    Ich bekam an solch einem Tag einmal einen weisen Ratschlag, den ich gerne weitergeben möchte:
    Jedes Kind schreibt alle seine Passwörter und Zugangsdaten auf einen Zettel und diesen in einen verschlossenen Umschlag, der für alle zugänglich abgelegt wird an einem vereinbarten Ort.
    Sollte dem Kind etwas geschehen (verschwinden etc) kann man den Umschlag der Polizei zur Verfügung stellen.
    Dieser Tipp wurde uns von der Polizei gegeben und ich finde ihn nachvollziehbar und gut. Anscheinend ist so in einem Dorf des Einzugsgebiets unserer Schule ein Entführungsfall schnell und ohne größeren Schaden aufgeklärt worden.

    Grüßle
    Coreli

    1. Handys durchsuchen geht ebenso wenig wie Zimmer durchsuchen, usw. Völliger Vertrauensbruch. Und kaum der richtige Weg zur Selbstständigkeit.

      Aber mit dem Ratschlag der Zugangsdatenhinterlegung wiederum habe ich enorme Probleme. Da kriegen die Kiddies einerseits bei jedem Registrierungsvorgang eingebläut, dass sie ihre Zugangsdaten niemals und unter keinen Umständen weitergeben dürfen. Und dann aber legen sie all ihre Zugangsdaten für quasi jedermann zugänglich irgendwo ab? – Von dem Möglichkeiten, damit übelsten Unfug zu treiben, ganz abgesehen (im Namen einer betroffenen Person „lustige“ Nachrichten verschicken ist da noch die harmlosere Variante).
      M. E. sollte sich der Zugang zu diesen Daten auf bestimmte vertrauenswürdige Personen beschränken.

      Oder habe ich den Ratschlag falsch verstanden und es haben z. B. nur bestimmte Lehrer oder die Eltern Zugang?

        1. Der Umschlag ist so verschlossen, dass das Kind sehen würde, wenn ihn jemand öffnen würde. Im Prinzip hat Niemand Zugriff im Normalfall. Im Notfall die Eltern und die können, wenn es um das Leben des Kindes geht die Daten an die Polizei weitergeben.

          Also meine Kinder vertrauen sowohl mir als auch ihren Geschwistern, dass wir dieses Vertrauen nicht missbrauchen würden. Und ein zufälliger Einbrecher hätte sicher besseres zu tun, als das Passwort eines Kindes von facebook mitzunehmen. Und sollte er es dennoch tun, wäre das angesichts des Einbruchs in unsere Wohnung unser geringstes Problem.
          Grüßle
          Coreli

  2. So bereichernd und Lebenswelt-verbindend ich die Zusammenarbeit mit Institutionen wie diesen finde, muss man immer im Hinterkopf behalten, dass es sich (meist) nicht um Pädagogen handelt, schon gar nicht um solche, die meine Schüler kennen. In meinen Nachbereitungsstunden plane ich immer Zeit ein, die eine oder andere Information an die Schüler zu korrigieren oder ins richtige Verhältnis zu bringen.

  3. Das sehe ich genauso wie du, Jan bzw. Teacheridoo. Man muss ja auch sehen, dass sich in Kinderzimmern/Kinderhandys ja nicht nur und ausschließlich strafbare Handlungen verstecken oder mitunter gar nicht. Man muss seinen Kindern ja auch ein bisschen Privatssphäre gewähren. Kleine Geheimnisse aufstöbern, wie das eingeherzte Bild des ersten Schwarms, geht ja mal gar nicht und sowas würde man da ja unfreiwillig auch finden. Und das mit Gewalt ans Licht zerren geht gar nicht. Wichtig ist, dass man für die Opfer als Ansprechpartner zur Verfügung steht, aber auch die Eltern der Kinder, von denen der Ärger ausgeht, entgegenwirken und zur Aufklärung beitragen, anstatt kategorisch die Vorstellung abzulehnen, der eigene Ableger könnte Mist gebaut haben.

  4. Abgesehen von der allgemeinen Diskussion:
    Du schreibst, dass ihr ‚Mobbing‘ mithilfe von Fragebögen gemessen habt. Auf welchen Fragebogen habt ihr zurückgegriffen?! Und warum gerade der?
    LG
    A.

    1. Ein Missverständnis: wir haben nicht „Mobbing“ gemessen sondern nur anonym abgefragt, wie wohl sich die Schüler fühlen.
      Drei Fragen (wie oft fühlst du dich wohl in der Klasse; ist eure Klasse ein Team; in eurer Klasse hilft man sich) mit jeweils zum ankreuzen (1-6) und am Schluss noch ein Textfeld „Diese Probleme gibt es in der Klasse“.

  5. Ich hatte heute in meiner Klasse 6 Besuch von (vermutlich) derselben Dame von der Polizei und hatte mir erhofft, dass die Klasse ein Stück weit darüber aufgeklärt/informiert wird, wie eine verantwortungsvoller Umgang mit dem Handy aussieht und wie man auf Gefahren (Beleidigungen, Kettenbriefe) sinnvoll reagiert.
    Auch ich war von dem Gesprächsverlauf alles andere als begeistert. Die Handynutzung, insbesondere Whatsapp, wurde von Anfang an nur negativ dargestellt. Sicher, ich bin selbst ein kritische Nutzerin von Whatsapp, komme aber in meinem Privatleben auch nicht daran vorbei. Klar lässt sich darüber streiten, ob es sinnvoll ist, wenn ein zwölfähriges Kind ein S5 mit Internetflat besitzt. Aber als Lehrer müssen wir uns hier der Realität stellen. Die Polizistin ließ ziemlich deutlich werden, dass die Eltern des einzigen Schülers, der kein eigenes Handy besitzt, es in ihren Augen genau richtig machen. Alle anderen, die die Handynutzung nicht überwachen, handelten hingegen verantwortungslos. Ich teile hier voll und ganz die Einschätzung von Jan-Martin. Ich kann als Elternteil bzw. Lehrerin die Handynutzung nur sinnvoll begleiten, wenn ich Vertrauen aufbaue, statt zu überwachen. Vor allem, weil wir Erwachsenen schließlich kaum mit den Entwicklungen Schritt halten können. Zudem kamen positive Aspekte der Handynutzung in der Doppelstunde überhaupt nicht zur Sprache.
    Ich bin jetzt jedenfalls auf meine MeSo-Stunde (Methoden- und Sozialkompetenz) morgen gespannt, in der ich den Besuch der Polizistin nachbereiten werde.

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