Zum Inhalt springen

InklusionIch bin bei Facebook über einen ganz wunderbaren Kommentar über Inklusion in der ZEIT gestolpert, der eine absurde Diskussion nach sich gezogen hat:

Mein Sohn ist geistig behindert. Alle Zwei Wochen kommt er nach Hause. Dann machen wir sonntags einen Spaziergang durch den Ort, bei dem wir auch in der Eisdiele einkehren. Nun wechselte dort der Besitzer – und als wir wieder hinkamen, begrüßte der neue Chef meinen Sohn mit Vornamen! Christian war völlig erstaunt und freute sich unglaublich. Offensichtlich wurde er beim Übergabegespräch mit übergeben. Das ist Inklusion!
Elmar Forst,
Odenthal, Nordrhein-Westfalen

Im Anschluss dann in 259 Kommentaren eine – teils wutentbrannte – Diskussion darüber, was Inklusion eigentlich ist. Viele freuen sich über die Geschichte, andere heben hervor, dass dieses Erlebnis genau das Gegenteil von Inklusion sei. So schreibt die Nutzerin Kerstin (exemplarisch):

da sieht man mal dass auch hier Inklusion nicht verstanden wurde, denn wer extra übergeben wird und dann noch darüber öffentlich in den Printmedien und Netzwerken geschrieben wird… dann bleibt es bei exklusiver Isolation inklusive Alibi! [sic]

Und Milan schreibt:

Ich will wirklich nicht querschießen oder die schöne message kleinreden wenn ich frage: ist das wirklich Inklusion? Hieße das nicht, dass auch jeder andere Stammgast bei der „übergabe“ namentlich genannt wurde? […] [sic]

Darunter weitere, ausfallende (“Boah was sind hier viele Holbratzen dabei” [sic]) und auch bescheuerte Kommentare, verbunden mit viel Zorn und hohem Blutdruck.

Als Lehrer mit zwei Glasknochen-Schülern in der eigenen Klasse habe ich in den letzten Jahren immer wieder über den Inklusionsprozess geschrieben. Ganz praktisch, nah dran und völlig subjektiv, dafür nicht besonders wohlformuliert. Ich musste ein paar Tage über den Artikel und die nachfolgende Diskussion grübeln, bin aber dem Problem, glaube ich, auf die Schliche gekommen.

Was ist Inklusion?

Ganz konkret: Wie kann es sein, dass sich gebildete Menschen nach so einer schönen Geschichte in die Haare bekommen? Was ist Inklusion jetzt eigentlich?

Auf dem Papier hat „Kerstin“ natürlich recht: Ideale Inklusion wäre keine Erwähnung wert. Zur Erinnerung: Es wird ja auch nicht darüber berichtet, dass in der Eisdiele eine Frau arbeitet, obwohl das vor 50 Jahren vielleicht noch eine Erwähnung wert gewesen wäre („Hat sie die Erlaubnis ihres Mannes..!?“). So betrachtet sind „Frauen“ in die Gesellschaft inkludiert, es wäre wünschenswert, dass dies bei behinderten Menschen ähnlich sei.
In der Praxis würde ich „Kerstin“ jedoch vehement widersprechen.
„Inklusion“, also die Einbindung von Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft, bedeutet nicht, dass alle gleich sind. Es bedeutet nicht, dass alle die gleichen Anforderungen haben und es bedeutet auch nicht, dass alle gleich behandelt werden müssen.

Fahre ich deutlich zu schnell, erhalte ich eine andere Geldstrafe, als wenn Marco Reus dies tut. Wir beide sind nicht gleich. Die Strafe ist nicht gleich; aber sie ist gerecht – oder anders ausgedrückt: der jeweiligen Person angemessen.
Aus dem gleichen Grund pflaume ich den Klassenclown harsch an, während ich das stille Mäusken sanft tadle.

Ein (in welcher Form auch immer) behindertes Kind wird stets andere Hürden zu meistern haben, andere Hilfestellungen brauchen und andere Umgänge genießen, als ein gesundes Kind.
Ein behindertes Kind in der Eisdiele mit Namen zu grüßen ist nicht das gleiche wie jeden anderen normalen Gast zu grüßen. Alleine schon, weil meine Befindlichkeit nicht davon abhängt, ob und wann und wer mich grüßt – während eine Veränderung der Umstände bspw. bei Autisten für starke Irritationen sorgen kann. Inklusion bedeutet nicht: Vorspielen als wäre alles normal.

Einmal mehr empfinde ich diese Art Diskussionen als jene Form von Political Correctness, über die ich mich insgeheim sehr ärgere (und deshalb auch zuletzt ausführlicher darüber schrieb). Wir stecken Energie in absurde Diskussionen, die mit den tatsächlichen Problemen vieler Menschen nichts zu tun haben. Ablenkungsdebatten nennt Hagen Rether das. Zurecht.

5 Gedanken zu „Was ist Inklusion?“

  1. Herzlichen Dank für diesen Beitrag!

    „Inklusion“ muss nicht „Gleichmacherei“ bedeuten; mit Integration der in dem Zeit-Beitrag geschilderten Art wäre bereits viel, ja mehr gewonnen.

    1. Ich finde die Geschichte schön.
      Dadurch fühlte sich der Junge wahrgenommen und wertgeschätzt. Die „normalen “ übliche Reaktion wäre doch sonst : verklemmt wegschauen und nicht wissen was man sagen soll.
      Meiner Meinung nach ist die Gesellschaft noch nicht so weit, „Behinderte“ als „normal “ anzusehen und unbefangen gegenüber zutreten.

  2. Auch wenn ich deine Argumentation schlüssig finde bleibt ein fader Nachgeschmack. Der Autor dieser anrührenden Geschichte hätte einfach auf das politisch aufgeladene Wort Inklusion verzichten und stattdessen von Akzeptanz und Wertschätzung schreiben können.

    @ Ruth: Geh nicht so hart ins Gericht mit Menschen die sich im Kontakt mit Menschen mit Behinderung ungeschickt verhalten. Es zeigt nur, dass wir alle von Zeit zu Zeit beeinträchtigt sind und eine helfende Hand gebrauchen können.

  3. Wieso sehen eigentlich nur wir Lehrer es so, dass „Ein (in welcher Form auch immer) behindertes Kind (…) stets andere Hürden zu meistern (…)“ hat und “ andere Hilfestellungen (…)“ benötigt „als ein gesundes Kind“ ?
    Wie man in dem Artikel „Ich werde keinem Kind mehr gerecht“ in der FAS vom 12.2.17 lesen kann, sieht die Realität ganz anders aus:
    http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/misstaende-an-deutschen-schulen-eine-lehrerin-berichtet-14871446.html

  4. Um den oben genannten Artikel aus der FAZ nicht umkommentiert stehen zu lassen…. *Auf der Strecke bleiben die paar normalen, unauffälligen, lernbegierigen Kinder, die einfach mitlaufen, weil man als Lehrerin keine Zeit für sie hat.* (sic)
    Wer Kinder in Kategorien wie normal und (ich führe eng) behindert/traumatisiert/verhaltensauffällig kategorisiert, sollte seinen Beruf schon lange aufgegeben haben.
    Ich bin seit 15 Jahren ebenfalls Grundschullehrerin und ich verwahre mich gegen die Haltung, die da wohlmeinend angebracht wird.
    Und ich finde Ihre Kommentare, Herr Willers und Klinge, auf den Punkt und wertschätzend.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert